Wiener Blut - unter die Lupe genommen

Christine Schmidjell erläutert Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald"

Von Katrin Viktoria MühlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Viktoria Mühl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Geschichten aus dem Wiener Wald" gilt als das dramatische Hauptwerk Ödön von Horváths. 1931, als Horváth mit dem renommierten Kleistpreis ausgezeichnet wird, bezeichnet Juror Carl Zuckmayer ihn als "die stärkste Begabung und die prägnanteste Persönlichkeit unter den jüngeren Dramatikern".

In den Erläuterungen steht das Beste gleich zu Beginn: "Kommentar, Wort- und Sacherklärungen" machen ein Viertel der Textlänge - und dabei drei Viertel des Lesevergnügens aus. Christine Schmidjell ist ein informativer Einblick gelungen, der Horváth-Liebhaber genauso wie interessierte "Nicht-Akademiker" auf ihre Kosten kommen lässt. Die Autorin führt in ihren Stellenkommentaren kurze Lexikonartikel und Ergebnisse der Forschung auf. Wort- und Sacherklärungen helfen, Austriazismen, sowie Zeit- und Ortsangaben auch im weiteren Zusammenhang zu verstehen. Sie sind großzügig mit Informationen versehen, etwa zur politischen Lage um 1920 in Wien.

Die Beiträge zeigen, dass Horváth mit einer Verfremdungs-Technik arbeitet. Dies beginnt schon beim Titel: indem er aus dem "Wienerwald" einen Wiener Wald macht, wird angedeutet, dass den Theaterzuschauer oder Leser etwas anderes erwartet als ein traditionelles Volksstück. Wiener Klischees werden demaskiert, buchstäblich auseinander genommen: die Walzerseligkeit, die heile Welt der Familie, Szenen beim Heurigen und vieles andere mehr. Kompositorische Besonderheiten, wie unter anderem der Szenenaufbau und die Verwendung von Musik werden aufgezeigt und erläutert. Beispielsweise werden im Stück auffallend häufig Walzer auf dem Klavier gespielt - und mittendrin abgebrochen. Der Stellenkommentar nennt zu diesen Titeln nicht nur die Kompositionsdaten, sondern öffnet den Blick für die Bedeutung solcher Unterbrechungen der Harmonie, die in mannigfaltigen Formen eingesetzt sind: "Musik ist wie der Alkohol ein Mittel der Vernebelung und ist wie dieser ein schwindelhaftes Versprechen auf Glück und unentwegte Fröhlichkeit." Die Störung der musikalischen Harmonie stehe "stellvertretend für die Störung sozialer Kontakte" (Alfred Doppler).

Der zweite Teil des Bändchens widmet sich der Entstehungsgeschichte. Horváth hat sowohl die Namen seiner Figuren als auch Handlung und Aufbau des Stücks während der Jahre 1928 - 1931 mehrfach umgearbeitet. In den "Erläuterungen und Dokumenten" wird darauf verzichtet, eine Klammer um die Analysen zu bilden. Schmidjell setzt vielmehr dem Leser einzelne Appetithappen vor, daher lesen sich die "Dokumente zur Aufführungsgeschiche" und die "Genese" der "Geschichten aus dem Wiener Wald" schwerfällig. Diese beiden mittleren Kapitel wirken unsystematisch und daher verwirrend auf Grund der Fülle der Forscher bzw. Namen und Beiträge, die die Autorin anführt.

Schließlich werden einige Aspekte des literaturwissenschaftlichen Diskurses über Horváth aufgegriffen. So etwa, dass sich "Erkenntnisprobleme" aus dem Volksstückcharakter ergäben (evaluative Schwierigkeiten, sowie Fragen nach der Gattung und der poetischen Verfahrensweise), die durch Rezeption und Kanonisierung vorschnell beantwortet worden seien (Winfried Nolting). Die "Einzelnen Aspekte" auf den letzten Seiten stehen als Sammelsurium etwas verloren da. Hier möchte man entweder mehr erfahren oder wünscht sich, diese Interpretationshinweise wären noch in den hervorragenden Stellenkommentar eingearbeitet worden.

Irreführend ist der im Inhaltsverzeichnis kursiv gesetzte Titel ("Geschichten aus dem Wiener Wald. Volksstück in sieben Bildern"). Denn hierbei handelt es sich um eine ältere Fassung, die nie zur Aufführung kam - mitnichten erwartet uns hier der Abdruck eines Primärtextes. Nun ja, wir lesen sehr gern an anderer Stelle parallel, denn Frau Schmidjell hat unser Interesse an der Vielfältigkeit der Horváth'schen Kunst geweckt.

Titelbild

Christine Schmidjell: Ödon von Horváth. Geschichten aus dem Wienerwald.
Reclam Verlag, Leipzig 2000.
140 Seiten, 3,60 EUR.
ISBN-10: 3150160162

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