Der gestrauchelte Marxist

Wolfgang Harich in seiner Gedenkschrift

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wir 'Zweitrangigen' sind durchaus nicht unwichtig. Wir tun, schlecht und recht und so gut es geht, unsere Arbeit, und wir haben allesamt einen Anspruch darauf, dass man unsere Bemühungen anerkennt." Wolfgang Harich war für solche Bescheidenheitsgesten weniger bekannt als für seine forsche, kämpferische Natur, die ihm acht Jahre Zuchthaus in der DDR und ein Leben als Geächteter eintrug.

Werner Mittenzwei, Literatur- und Theaterwissenschaftler und Brecht-Biograph, zitiert diesen Brief (aus dem Jahre 1949) in seinem vorzüglich gearbeiteten Beitrag über Wolfgang Harich als Lektor des Aufbau-Verlages. Wir erinnern uns: Harich, geboren 1923 in Königsberg, gestorben 1995 in Berlin, KPD-Funktionär, begann seine publizistische Laufbahn als Theaterkritiker und Feuilletonist. 1949 verteidigte er Bertolt Brecht gegen den Vorwurf der "volksfremden Dekadenz", und bald war er einer der Wortführer einer "neuen Kunst" in der DDR. Er publizierte in renommierten Zeitschriften, etwa in "Sinn und Form", und war selbst Redakteur der "Deutschen Zeitschrift für Philosophie". Er arbeitete als Lehrbeauftragter für Marxistische Philosophie an der Ost-Berliner Humboldt-Universität und zugleich, von 1950 bis 1956, als Lektor bei Aufbau. Er hatte entscheidenden Anteil an der Durchsetzung des Werkes von Georg Lukács, dessen Literaturtheorie und Realismusbegriff er sich mit messianischem Eifer zu Eigen machte. 1956 freilich kam für den "Nationalkommunisten" das Aus: sein berühmtes Manifest über den deutschen Sozialismus, die Demokratisierung der SED, die Wiedervereinigung "von links" trugen ihm einen Schauprozess und eine zehnjährige Haftstrafe ein. Die drakonische Strafe - "wegen eines gegen die DDR gerichteten Staatsverbrechens" - verbüßte er bis zu seiner Begnadigung 1964.

Aber noch während er einsaß, arbeitete er an Essays über seine Hausgötter Herder und Hegel, Arnold Gehlen und Nicolai Hartmann sowie an seiner großen Jean-Paul-Monographie (1968). Die Jean-Paul-Rezeption in der DDR wird von Dorothea Böck dargestellt - der Antipode der Weimarer Klassik war in der DDR beinahe ebenso eine Persona non grata wie der in Bautzen einsitzende, über das "Quintus Fixlein" gebeugte, doch ungebrochene "Hochverräter", der durch "loyales, einwandfreies und bescheidenes Verhalten" seine Rehabilitierung zu erreichen suchte. Doch Erfolg hatte er damit erst 1990, nach dem Untergang der DDR.

Einen großen, postumen Rehabilitierungsversuch stellt die 1999 begonnene und jetzt abgeschlossene zweibändige Gedenkschrift "Wolfgang Harich zum Gedächtnis" dar. Reinhard Pitsch und Stefan Dornuf, ein "orthodoxer" und ein "heterodoxer" Anhänger der Lukács-Schule, haben sie zusammengestellt. Es ist eine recht krude Mischung geworden. Eine kritische Würdigung von Harichs Person und Werk ist eher die Ausnahme. Dafür wird auf Harichs Gegner eingeteufelt, als gelte es, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Schon im Vorwort des ersten Bandes erweckt Reinhard Pitsch den Eindruck, ein Schlangennest von Gegnern und Neidern sei für die gegenwärtige Marginalisierung der Lukács-Schule (neben Lukács vor allem Leo Kofler und eben Harich) verantwortlich. Und mit zum Teil harten Bandagen versucht Paul Falck, den ehemaligen Leiter des Aufbau-Verlages Walter Janka, den einstmaligen Freund und späteren Feind Harichs, um jegliche Reputation zu bringen.

Aufschlussreich hingegen sind die Erinnerungen an Harich (etwa in den Beiträgen von Alfred Schmidt oder Camilla Warnke). Der zweite Band dieser Gedenkschrift bietet auch Lesenswertes über Harich als private Person, beispielsweise als Verehrer und Lehrer des schönen Geschlechts. Das Porträt, das Siegfried Prokop der kurzzeitigen Harich-Gefährtin Irene Galtier-Giersch zu entlocken weiß, ist beinahe schon Literatur: "Ich kam am Sonnabend hin, und da stand er dann in einem verschlissenen Morgenmantel, ungewaschen, unrasiert. Neben seiner Schreibmaschine, die er mit zwei oder vier Fingern bediente, ein voller Aschenbecher; er rauchte ja enorm viel. Er sagte zu mir: 'Dieses Wochenende habe ich wieder mal zu arbeiten. Hier hast du zwei Bücher, die wirst du jetzt lesen, und morgen Abend reden wir darüber'." Um den Haushalt kümmerte sich Harichs Mutter, zum Kochen und Einkaufen gab es eine Haushälterin, und einmal die Woche kam die Waschfrau. Großbürgerliches Leben in der DDR.

Gisela May, Harichs Lebensgefährtin über gut zehn Jahre, war es, die die erste Begegnung mit Günter Gaus, damals Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in Ost-Berlin, einfädelte. Ein "Antrittsbesuch", bei dem Harich Gaus sogleich auf das Terrain seiner Bücher zog. Sie sprachen über "Kommunismus ohne Wachstum" (1975) und über die Frage, wer die Kontrolleure kontrolliert, die über den angemessenen Umgang mit Ressourcen wachen.

Von der wechselvollen Beziehung Harich - Arnold Gehlen handelt der Beitrag Karl-Siegbert Rehbergs: Harich war der Ansicht, dass Gehlen mit seiner Anthropologie "einen unentbehrlichen Eckstein für das Weltbild des Marxismus geliefert" habe. Zwölf Jahre nach Gehlens Tod erfüllte es Harich "mit Beschämung", dass er dem Plagiator des jüdischen Gelehrten Paul Alsberg so unbekümmert aufgesessen sei.

Andere Beiträge, zum Beispiel Hans G. Helms' Überlegungen zur "Künstlichen Intelligenz" oder Thomas Metschers Beitrag "Dialektik und Wirklichkeit", gehen auf Harich nicht oder nur am Rande ein (wie Peter Christian Ludz in seinem Aufsatz "Religionskritik und utopische Revolution") oder sind ihm lediglich zugeeignet. Kurze Einführungtexte von Stefan Dornuf stiften da notdürftig Zusammenhang und begleichen alte Rechnungen von "Wende"-Geschädigten.

Kein Bild

Stefan Dornuf / Reinhard Pitsch (Hg.): Wolfgang Harich zum Gedächtnis, Band 1. Gedenkschrift in 2 Bänden.
Müller und Nerding Verlag, München 1999.
488 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3980705803

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch