Bambi in der Bronx

Jerome Charyns Homage an seine bildschöne, weißrussische Mutter

Von Viola HardamRSS-Newsfeed neuer Artikel von Viola Hardam

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für den fünfjährigen Jerome ist sie ein Held, "so raubgierig wie die Männer um sie herum, und ihre Schönheit war wie eine Infektion, gegen die sich niemand schützen konnte." - seine Mutter, Faigele Charyn. "Wenn wir auf der Straße gingen, ein Wunderknabe in kurzen Hosen und seine Mutter, die so herausfordernd schön war, daß alles Treiben zum Erliegen kam, betraten wir eine Zeitlupenwelt, in der Frauen, Männer, Hunde, Katzen und Feuerwehrleute sie mit einer solchen Sehnsucht ansahen, daß ich mir vorkam wie ein Usurpator, der sie auf einen anderen Hügel verschleppte." Mit diesen Worten beschreibt Jerome Charyn nach Jahren die innige Liebe zu seiner bildschönen Mutter, einer weißrussischen Jüdin, die als Mädchen von Russland nach New York kam und sich nun mit ihrer jungen Familie in der korrupten Bronx der 40er Jahre durchschlägt. In seinen Kindheitserinnerungen lässt er Faigele, wie sie liebevoll von Freunden und Bekannten genannt wird und was im Jiddischen so viel wie "Vögelchen" bedeutet, mit ihrem rätselhaften Charme, ihrer Melancholie und Schönheit wieder auferstehen. Er beschreibt ihre gemeinsamen Ausflüge, wenn sie mit ihrem schwarzen Haar und den hohen Wangenknochen im geschmuggelten Silberfuchsmantel durch die New Yorker Bronx flaniert und damit alle Blicke auf sich zieht. Stets ist er an ihrer Seite: wenn sie verzweifelt Tag für Tag beim Postvorsteher in gebrochenem Englisch nach einem Brief ihres verschollenen Bruders aus Russland fragt, wenn sie in einer Pokerrunde der mächtigen und skrupellosen Lokalpolitiker der Bronx die Karten austeilt, wenn sie als Partnerin eines Schwarzmarkthändlers die Geschäfte vorantreibt, wenn sie als Fabrikarbeiterin Kirsche um Kirsche in Schokolade tunkt - Jerome, genannt "Baby", lässt sie nie allein.

Doch ein "Baby" ist er schon lange nicht mehr. Vielmehr übernimmt der Fünfjährige die Aufgaben einer Mutter und Vertrauten. Er hilft Faigele beim Kochen, Schminken und Anziehen, wenn sie wie gelähmt von Liebeskummer auf eine Nachricht ihres Bruders wartet. Er assistiert ihr während der Pokernächte beim Kartenausgeben und erinnert sie daran, dass sie ihn in der Schule anmelden muss. Zusammen lernen sie mit "Bambi" lesen und bringen sich Englisch bei. Faigele ermutigt ihren kleinen Sohn in seiner Wissensgier und beschützt ihn vor der Launenhaftigkeit seines Vaters, der nach einem Arbeitsunfall unter immer stärkeren Depressionen leidet.

In sechs kurzen Kapiteln lässt Jerome Charyn noch einmal die Bilder seiner Kindheit aus der Bronx der 40er Jahre lebendig werden und den Leser an der Faszination einer weißrussischen Jüdin teilhaben, die es versteht, mit ihren Mitmenschen, besonders den männlichen, möglichst gewinnbringend umzugehen, ohne dass sie sich selbst dabei verrät oder ihre Familie in Gefahr bringt.

Aber es sind auch Geschichten, die von einem kleinen Jungen handeln, der in einem Alter bereits Aufgaben übernehmen muss, in dem andere Kinder noch sorglos auf Bäume klettern oder Murmeln spielen. Von 'Ringworm' gepeinigt, einer für damalige Verhältnisse typischen Krankheit der Bronx, muss er sich zudem gegen die Angriffe anderer Kinder zur Wehr setzen, besonders aber gegen die seines älteren Bruders.

Jerome Charyn, der 1937 als Sohn jüdischer Einwanderer in der New Yorker Bronx zur Welt kam, gewährt den Lesern hier einen kleinen Einblick in die düstere, skurrile, aber auch sehr lebensfrohe Zeit der Schwarzmarkthändler und korrupten Lokalpolitiker der damaligen New Yorker Szene und lädt ein, auf den Spuren der schönen Faigele zu wandeln.

Titelbild

Jerome Charyn: Die dunkle Schöne aus Weißrußland.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2000.
144 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3828601243

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