Tadzio in Amerika

Gilbert Adairs "Liebestod auf Long Island"

Von Melanie OttenbreitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Ottenbreit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein alternder Schriftsteller läuft ziellos durch die Straßen der Londoner Vorstadt. Als es zu regnen beginnt, flüchtet er unter ein Kinovordach, wo ihm ein Filmplakat ins Auge fällt: Eine Romanverfilmung E.M. Forsters wird geboten, von der er sich nicht viel, immerhin aber ein wenig Abwechslung erhofft. So betritt er den Vorführsaal, um schon nach Augenblicken enttäuscht zu werden: Statt des Romans präsentiert sich ihm ein amerikanischer Teenagerstreifen, der ihm weder in Fabel noch in Gestalt gefällt, ihn vielmehr langweilt und anwidert. Er ist im falschen Film und nach wenigen Minuten gewillt, das Filmtheater zu verlassen, bis ihn etwas in seinen Bann zieht: Ein knabenhafter Schauspieler tritt auf, nimmt ihn mit seiner Anmut gefangen, gewinnt ihn nicht mit Talent, sondern durch seine fast "ordinäre Schönheit". Fortan wird er dem Schriftsteller in seinen Träumen erscheinen, ihn anregen und an den Rand der Selbstentäußerung führen. Er ist, ohne davon zu wissen, ein Wiedergänger Tadzios aus Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig".

Der Anblick des Filmkünstlers scheint makellos. Noch nie, schwärmt der Erzähler, sei er einem so "vollendeten Muster dieses Typs begegnet", er ist hingerissen, fast verloren. Nun verändert er sein Leben, opfert es vollends dem Adonis, der nicht seinen Intellekt, sondern seine Gier befriedigt. Er schneidet seine Fotos aus Hochglanzmagazinen, labt sich an ihnen und gibt sich mehr und mehr seiner Wollust hin. Wie Gustav von Aschenbach wird er von Schaffenslust gepackt und beginnt ein Werk zu schreiben, dessen Titel "Adagio" in Klang und Schrift auf den jünglingshaften Helden der Mannschen Vorlage verweist. Entnervt arbeitet der Protagonist am Rande der Erschöpfung; ringend mit seiner Sprache, aus deren "Marmorblock" er Prosa klassischen Stils meißeln will.

Gilbert Adair fertigte seinen Roman "Liebestod auf Long Island" nach einem einfachen Konstruktionsprinzip: Er vertraut sich einem Klassiker an, gestaltet jedoch eine neue, aber um Längen schlechtere Prosa, die dennoch neugierig macht, weil sie das Bekannte variiert. Schließlich aber vermag sie nur zu enttäuschen, denn die Variation unterstreicht nur, daß sie den Rang des "Tod in Venedig" nicht erreichen kann. Weder gelingt es dem Ich-Erzähler Giles de´Ath (man beachte das todsichere Wortspiel), die Größe Aschenbachs einzunehmen, noch dem Jüngling, in die Rolle von Tadzio zu schlüpfen. Die imitatio ist hohl, die Handlung durchsichtig und für jeden Kenner der Mannschen Novelle ermüdend. Wem wäre nicht klar, daß der zu Ehre gekommene Literat Schmerz verspürt, wenn er sich seiner Schwärmerei für den Knaben bewußt wird. Wer rechnete nicht damit, daß der Schreiberling träumt, daß ihn eine Heimsuchung erwartet, nicht vom fremden Gott, wie bei Aschenbach, sondern anders, banaler - durch die "zerknautschte Vitalität" von Gesichtern, die ihre Verwandtschaft in "Daumiers Karikaturen, japanischen Masken und barocken, obszönen Wasserspeiern und Karyatiden" finden. Wer erriete nicht, daß die Tadzio-Kopie an makelhaften Zähnen leidet. Und wen überrascht es noch, wenn der Verliebte endlich seinem Idol begegnet - auf Long Island, wie der Titel zu vermuten gibt, daß er dem Schönen nachstellt bis zur totalen Blöße. Allein auf den Tod des Schriftstellers am Ende des Romans verzichtet Adair. Statt wie bei Thomas Mann ins "Verheißungsvoll-Ungeheure" eines erlösenden Ablebens zu gleiten, verbleibt der Held in unerfüllter Leidenschaft, die ihn zermürbt, aber nicht tötet.

Ungewollt komisch wirkt die Qual des Protagonisten "in jenen Momenten, in denen ich darum rang, meiner eigenen Sprache Gestalt zu geben". Fast scheint es so, als ringe nicht nur der Erzähler, sondern auch der Autor um Worte. Nur zuweilen finden sich gelungene Passagen, wenn etwa London beschrieben wird, dort wo "die Straße an Fahrt gewinnt, wie ein Strom, der sich alsbald reißend in das Meer der tiefer liegenden Metropole ergießt." Ansonsten droht der Leser in Metaphern zu ertrinken. Schiefe Bilder wie das vom "Schneeball, von dem sozusagen alles Fett weggeschnitten worden war", verderben den sprachlichen Genuß der Lektüre.

Und wenn vielleicht alles nur ironisch gemeint wäre? Das würde die derart gestelzten Anspielungen auf Thomas Manns Novelle nicht entschuldigen. Adair gelingt es einfach nicht, einen neuen Tadzio zu kreieren, weil er zu plump auf das Bekannte pocht und den Roman in eine Vorlage nötigt, die ihm nicht entspricht. Er kann den Schönen zwar am Strand zeigen, wo ihn "die Vorboten der hereinbrechenden Nacht und das Schimmern und Flimmern eines kalifornischen Sonnenuntergangs, dessen ungesund gelbliches Licht in den Schattentümpeln beinahe purpurn erstrahlte, mit einer Patina spätnachmittäglicher Wärme überzogen". Die Atmosphäre jedoch, die Adair erschafft, dienert sich dem Vorbild nur an; ebenbürtig ist sie ihm nicht.

Titelbild

Gilbert Adair: Liebestod auf Long Island. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter.
Edition Epoca, Zürich 1998.
176 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3905513099

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