Nietzsche in Weimar

Ein Band der Stiftung Weimarer Klassik über das Nietzsche-Archiv in Weimar

Von Mirja StöckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mirja Stöcker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst einmal: im Nietzsche-Archiv, der "Villa Silberblick" in Weimar, wird heute nichts mehr archiviert. Nachdem die sowjetische Militäradministration das Archiv am 9. Dezember 1945 geschlossen hatte, wurden ein paar Jahre später sämtliche Bestände in das Goethe- und Schiller-Archiv überführt und den dortigen Sammlungen angegliedert. Das Gebäude des also ehemaligen Archivs ist das Haus, in dem Friedrich Nietzsche seine letzten drei Lebensjahre unter dem Einfluss seiner Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche, verbringen "musste"; das Haus, in dem er, bereits in völliger geistiger Umnachtung, ausgewählten Besuchern vorgeführt wurde und vor allem: das Haus, in dem die antisemitisch eingestellte und später begeisterte Anhängerin der Nationalsozialisten, Elisabeth Förster-Nietzsche, das Werk des Philosophen in ihrem Interesse verfälschte und einen im Dienste der Nazis stehenden Nietzsche-Kult inszenierte.

Der von der Stiftung Weimarer Klassik herausgegebene Band über das Nietzsche-Archiv legt seinen Schwerpunkt zum einen auf diese Rezeption durch Elisabeth Förster-Nietzsche und das Verhältnis des Archivs zu den Nazis, vor allem auch zu Hitler, der ein gern gesehener Gast der Schwester Nietzsches war. Zum anderen jedoch auch auf die Kunstgeschichte des Hauses, und insbesondere die architektonische Umgestaltung der unteren Etage durch den avantgardistischen Künstler Henry van de Velde im Jahre 1902.

Das Vorwort des Bandes beteuert, dass diese "Gedächtnisstätte" für Nietzsche "von Anfang an nicht seine Utensilien präsentieren, sondern den Verehrer auf sich selbst zurückführen" sollte. Doch warum bekommt der (leibhaftige) Besucher des Nietzsche-Archivs dann nachgebildete Archivkartons der einst die Originalschriften beinhaltenden Pappschachteln vorgesetzt? Auch die "imaginären Rundgänge" durch Ober- und Untergeschoss des Hauses befinden sich zumindest auf einer Gratwanderung zwischen kunstgeschichtlicher beziehungsweise architektonischer Rekonstruktion und schwärmerischer Vorführung zum Beispiel des (Super-) Nietzsche-Logos von Henry van de Velde über dem Ofen des Bibliotheks- und Vortragsraums.

Insgesamt ist der Band aber eine gelungene historische Rekonstruktion dieses fragwürdigen Ortes und der von dort ausgehenden Nietzsche-Rezeption, und er spricht sich aufgrund der historischen Gegebenheiten eindeutig gegen eine Rückführung der Bestände in das ehemalige Nietzsche-Archiv aus.

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Nietzsche-Archiv: Das Nietzsche-Archiv in Weimar.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
208 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3446199535

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