Variation statt Korsett

Das poetische Werk Arthur Rimbauds in der deutschen Übertragung von Hans Therre und Rainer G. Schmidt

Von Kristina FriesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kristina Fries

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arthur Rimbaud (1854-1891), der in Deutschland wenig beachtete Wegbereiter der surrealistischen Dichtung in Frankreich, widmete sich in seiner kurzen Schaffensphase, die mit seinem 20. Lebensjahr bereits endete, fast ausschließlich der Lyrik. Auch die zahlreichen Brief-Korrespondenzen (selten wählte er auch die abstrakte Briefform als Genre) gehören größtenteils zu seinem literarischen Werk, zumal hier nicht nur politische, sondern vor allem poetologische Überzeugungen deutlich werden.

Sein Anliegen war das Erschließen des Unbewussten, das Einfangen von inneren, halluzinativen Bildern mit Hilfe einer neuen poetischen Sprache, die sich als eine universale Sprache von Seele zu Seele bewegen sollte. Rimbaud gehörte zur linken Opposition in Frankreich und attackierte das Bürgertum vor allem mit seiner ungewohnt provokativen und unzeitgemäßen Sprache. Er wollte mit ihr und durch sie zu neuen Ufern aufbrechen, was sich besonders in seinem symbolträchtigen Gedicht "Le Bateau Ivre" ("Das trunkene Schiff") nachlesen lässt. Geradezu von Metaphern getragen, und eben nicht nur durch sie geschmückt, bewegt sich das Boot als Sehendes auf die Untiefen des Meeres zu. Das lyrische Ich sieht, beschreibt, warnt und erschüttert mit dieser Sprache, die sich permanent auf der Suche zu befinden scheint.

Hans Therre und Rainer G. Schmidt haben sich mit ihrem Projekt, das poetische Werk Rimbauds ins Deutsche zu übertragen, ein hohes Ziel gesetzt, denn ihr Anliegen ist es, mit den bisherigen "dichterischen" Übersetzungen (meist sind es die bekannt gefährlichen Reim-Übersetzungen) abzuschließen und eine der dichterischen Intention entsprechende offene Übertragung zu wagen. Sie haben sich auf sämtliche Gedichte und Zyklen sowie vier Briefe eingestellt, wobei der Vergleich mit der französischen kritischen Ausgabe von Antoine Adam ergibt, dass die "Textes latins" und "Invocation à Venus" nicht berücksichtigt sind. Die Editoren wollen nicht krampfhaft einen Sinn suchen, sondern "Sinnlichkeit freisetzen". Dieses, in der Editionsnotiz formulierte Programm nehmen sie durchaus ernst und entfernen sich dabei von der sprichwörtlichen Lateinlehrer-Mahnung: "So nah wie möglich, so frei wie nötig." Gerade derart konventionelle Direktiven gilt es ihrem Anspruch nach zu brechen.

Das Ergebnis ist allemal neu und gewöhnungsbedürfig, doch trotz der zunächst befremdlichen Freiheit bleiben sie dem Dichter treu. Sie suchen nach einem bestimmten Stil der deutschen Sprache, die nicht jedes Wort, jede Reihenfolge des Originals bewahren muss und kann. Sie bieten, im Gegensatz zu den fast kastrierenden Reimkorsetten anderer Übersetzungen, einen, wenn auch eigenwilligen, Zugang zur surrealen Sprache Rimbauds an.

Es war die ihm eigene Überzeugung, dass die in der Tiefe existierenden Dinge durch den Poeten, in der Rolle eines Geburtshelfers, hervorgeholt und ans Licht gebracht werden müssen, da die Gedanken als solche schon vorhanden sind. Insofern erweisen die Übersetzer dem Dichter die Ehre, seiner Sprache einen Kanal ins Deutsche zu legen, dabei das Wichtige herauszufiltern, den Inhalt aber stilistisch und formal neu entspringen zu lassen. Zuweilen mag ihre Souveränität erstaunen, da sie als Interpreten die sprachliche Obszönität oft deutlicher machen als der Dichter selbst, ganz in Kohärenz mit ihrer eigenen Empfehlung, diese Art von Lektüre in außerliterarischer Umgebung zu versuchen: "bei einer U-Bahn-Fahrt, im Halbschlaf, nach einem Zank, beim Scheißen."

Sie wagen sich außerdem an scheinbar verfremdende, dennoch allemal mit dem Autor kommunizierende Wortspiele. Im Gedicht "H" (Hasch; bezeichnet den französischen Buchstaben genau wie das in beiden Sprachen gleich lautende Suchtmittel) formen sie das französische "hydrogène clarteux" zum deutschen Ausdruck "HyDROGEN=Helligkeit".

Nicht nur in semantischer, sondern auch in formal-visueller Hinsicht brechen sie das Original auf, besonders deutlich bei dem Gedicht "Michel et Christine", dessen angekratzte Idylle nun nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch optischer Ebene, durch ein zweimaliges spitzes Zulaufen der Verse, vor das lesende Auge tritt.

Sicher mag die künstlerische Freiheit den an konventionelle Übersetzungen gewöhnten Leser befremden, doch gilt es zu berücksichtigen, dass Lyrik schlicht unübersetzbar ist. Sie kann nur im Original in all ihren Dimensionen verstanden werden. Hans Therre und Rainer G. Schmidt wollten allerdings am allerwenigsten einfach übersetzen; sie riskieren die freie Übertragung, ja sogar die Variation und öffnen ohne Absolutheitsanspruch den Text nicht in absoluter Identität, sondern im Einklang mit dem Autor.

Titelbild

Arthur Rimbaud: Das poetische Werk.
Übersetzt aus dem Französischen von Hans Therre und Rainer G. Schmidt.
btb Verlag, München 2000.
392 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3442722853

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