"Mir wächst auf dem Kopf ein Planet, auf dem ich nicht leben will"

Das Debüt des Schweizer Autors Michael Stauffer

Von Judith LiereRSS-Newsfeed neuer Artikel von Judith Liere

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Schwanenvernichtungsphantasien kann man Preise gewinnen - das bewies Michael Stauffer 1999 beim Berliner Literaturwettbewerb Open Mike. Wunderbar gemein schilderte er in seinem Beitrag den äußerst subtil durchgeführten Kampf des Ich-Erzählers gegen die verhasste Spezies und gegen all ihre uneinsichtigen Beschützer: Neben Giftködern, Kettensägenlärm und Angriffen mit einem Pedalo erweist sich auch der Einsatz eines schallgedämpften Gewehres als effektiv: mit einigen gut sitzenden Schüssen ("Schwäne bluten schlecht. Wenn man sie also schlecht schiesst, leben sie nachher noch wochenlang weiter und paaren sich möglicherweise noch einmal") lassen sich bis zu 25 Tiere in einer Woche erledigen. Langfristig hilft allerdings nur, das allgemein verbreitete positive Image der Schwäne zu zerstören. Deshalb erstellt der Erzähler Ordner mit Fotos von Haubentauchern, die von Schwänen angegriffen wurden und zeigt sie den Spaziergängern; deshalb schreibt er ein Buch, in dem er sich als finnischer Schwanenforscher ausgibt ("Man glaubt mir. Der Schwan ist ja schliesslich ein finnisches Natursymbol") und die Tiere als "dominante, fress- und herrschsüchtige, alles verschlingende Kopulationsmaschinen" darstellt.

Doch dass der junge Schweizer Autor (Jahrgang 1972) weitaus mehr kann, als nur mit gut erzählten Gemeinheiten zu unterhalten, beweist er jetzt in seinem Debüt ",I promise when the sun comes up I promise, I'll be true'¹ ¹So singt Tom Waits. Ich will auch Sänger werden.". Das Buch enthält neben der Schwanen-Episode noch 44 andere kurze Kapitel und 102 Fußnoten, die zwar keine kontinuierlich fortschreitende Handlung aufweisen, zusammen aber trotzdem eine Geschichte ergeben.

Michael Stauffer entwirft in seinem Ich-Erzähler einen Charakter voller Alltagsphobien und -neurosen. Er erscheint dem Leser anfangs lediglich auf eine sympathische Art verschroben, wenn er bei der Geschirrrückgabe im Selbstbedienungsrestaurant mit Ketchup obszöne Bilder auf den Teller malt oder zu Hause den Stecker des nie benutzten Herds zieht, weil er befürchtet, dass der plötzlich von selbst zu kochen anfangen könnte und Unmengen von Strom fräße.

Diese 'Ticks' werden allerdings immer ausgefallener und die Gemütszustände des Erzählers immer extremer. Er verbringt viel Zeit in seiner verdreckten Wohnung, wo er sein Zimmer in verschiedene Staubregionen einteilt, sich selbst Postkarten schickt oder sich Buchtitel ausdenkt - "Ein Leben für die Schublade", "Der Hosenbund kurz erklärt" oder "Keine Almosen den Beinlosen" -, Seitenzahl, Gewicht, Preis und Klappentext festlegt und sie anschließend als mit Sand gefüllte Videokassettenhüllen ins Regal stellt. Seine Toilette hat er so gestaltet, dass sie "wie auswärts" aussieht, nämlich den Reinigungsplan einer Putzkolonne aufgehängt und die Wände vollgeschrieben: "Wer lutscht meine Eier und küsst mein Gesicht am 23. 10. um 22.00 Uhr?"

Michael Stauffer beleuchtet schlaglichtartig (und nicht chronologisch) verschiedene Lebensabschnitte seiner Figur, Situationen aus der Kindheit und dem Alter. Alles ist in erlebter Rede geschrieben, oftmals reiht er lediglich Beobachtungen aneinander; syntaktisch beschränkt er sich größtenteils auf einfache Hauptsätze in der Struktur Subjekt-Prädikat-Objekt, was den Gestus der Unmittelbarkeit noch verstärkt.

Als raffiniertes Stilmittel erweist sich der durchgängige Gebrauch der Fußnoten, die beinahe ein Drittel des Textes ausmachen. Oftmals sind sie ergänzend oder spezifizierend, zum Teil erzählen sie aber auch vollkommen eigene, losgelöste Geschichten. So erfährt man z. B. lediglich ausgelöst durch das Wort "Kindheit": "Die Hebamme hat das Gas- mit dem Bremspedal verwechselt. Ich lag im Kinderwagen, mein Bruder schob den Kinderwagen. Mein Bruder war sofort tot. Ich habe mit einigen bleibenden Schäden überlebt." Teilweise wird sogar der Sinn des Haupttextes ins Gegenteil umgekehrt, etwa wenn der Erzähler sagt: "Für diese schlimmen Tage habe ich ein Handbuch mit Handlungsanleitungen", die dazugehörige Fußnote aber leer ist.

Das anfangs vorherrschende Gefühl, man habe es hier mit einem lediglich etwas seltsam denkenden Menschen zu tun, verschwindet beim Weiterlesen schnell. Passagen wie diese wiegen zu schwer und legen den Gemütszustand des Ich-Erzählers frei: "Ich befinde mich in einer Situation spirituellen Bankrottes. Es gelingt nichts. Alltagshandlungen geraten zu unberechenbaren Abenteuern. Mir vernebelt der Blick auf die klaren Dinge des Lebens. Mir wächst auf dem Kopf ein Planet, auf dem ich nicht leben will. [...] Ich glaube, ich bin einfach ziemlich verwirrt, durcheinander. Ich stehe am eigenen Bahnhof, wo mich niemand erkennt, wo alle an mir vorbeiblicken." Der Erzähler schafft mit seinem abweichenden, teilweise schon karikierend wirkenden Denken und Verhalten eine Distanz zu der ihn umgebenden Gesellschaft. Zwar nimmt er stellenweise an deren Handlungsmustern teil, ist jedoch niemals Teil von ihr.

Der ständige Wechsel zwischen ernsthaften Gedanken, in denen auch die Verzweiflung des Ich-Erzählers zum Ausdruck kommt, und lapidaren Überlegungen - "Vier Kinder, zwei Meerschweinchen, ein Einfamilienhaus und sozialdemokratisch wählen. So vergiftet sich die Gesellschaft" - macht den Reiz dieses Buches aus.

Titelbild

Michael Stauffer: "I promise when the sun comes up I promise, I´ll be true". So singt Tom Waits. Ich will auch Sänger werden.
Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein/Wien 2001.
96 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3905591170

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