Kaleidoskop

Walter Hincks Lyrik-Anthologie

Von Yvonne MesserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Messer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manchmal wird man von einem ambitionierten Kenner der Dichtkunst an die Hand genommen, der dazu imstande ist, die Begegnung mit oftmals rätselhaft verdunkelten Sprachlandschaften ins rechte Licht zu rücken. Manchmal auch gibt einzig der huldigende Titel den Rahmen vor, der wiederum eine bloß vage Orientierung mitliefert. In beiden Fällen wird jedoch versucht, dem sprachlichen Kunstwerk den Weg zu seinen Lesern zu erleichtern. Dabei ist es allerdings schwer, den gebührenden respektvollen Abstand zu wahren, in dem sich die Wirkung der dicht aneinander geballten Worte entfalten kann.

Meist ist der Leser aber vollauf damit beschäftigt, sich von Bevormundungen frei zu machen. Oder er hält vergebens Ausschau nach einem Guckloch, das Licht auf die Verse wirft.

In den "Stationen der deutschen Lyrik" skizziert Walter Hinck für "Freunde der Lyrik" die Entwicklung der Dichtkunst vom Luther'schen Kirchenlied bis hin zu Rolf Dieter Brinkmanns "lyrischen Schnappschüssen".

Hinck hat den Draht auch zu jenen Literaturliebhabern, die sich nicht an Universitäten und hauptberuflich im öffentlichen Literaturbetrieb tummeln. So hat er beispielsweise schon "Goethe für Gestresste" und eine "Jahrhundertchronik" der deutschen Erzählungen des 20. Jahrhunderts herrlich leichtfüßig aufbereitet, ohne über den wert- und kunstvollen Gehalt der Literatur hinwegzueilen.

Das Lyrikbändchen, um das es nun geht, lockt bereits mit schönem nachtblauen Leinen, auf dem regenbogenhaft bunt die Aussicht auf 100 Gedichte winkt. Man freut sich auf "entschlackte Sprache", die sich aus dem "Morsealphabet" der Lyrik zunehmend verdichtet herausgebildet hat.

Zudem spiegelt sich das Bestreben wider, die "Lyrikgeschichte als Mosaik" darzustellen. Abbildungen der Dichter und die persönlichen Kommentare des Herausgebers, die seine Auswahl unaufdringlich präsentieren, rücken den Leser in die ungewohnte Nähe der oft kanonischen Verse wie Goethes "Heidenröslein", Rilkes "Herbsttag", van Hoddis' "Weltende" oder Eichs "Inventur". Neben den Großen in der deutschen Literatur finden sich jedoch auch Hinwendungen zu nahezu vergessenen oder früh verstummten Dichtern. Kennt jemand Sibylla Schwarz? Hier scheint ein ganz kostbarer Faden wieder aufgenommen worden zu sein.

Die nur spärlich eingestreute Fachsimpelei über Metrum und Versformen in Hincks kurzen Interpretationen belässt den Dialog mit den Lyrikfreunden in einer Offenheit, die es möglich macht, eigene Deutungen weiter zu verfolgen. Persönliche Eingeständnisse des Herausgebers verdeutlichen, dass es sich hier nicht um eine bloße Sammlung privater Lieblingsgedichte handelt. Hesse bringt Hincks ,kritische Alarmglocken' "Im Nebel" kräftig zum Schlagen. Hofmannsthals eindringliche Frage "Was ist die Welt?" lässt Hinck offen gestehen, dass jenes Sonett keines seiner Favoriten ist.

Der Streifzug über die besonders intensiv leuchtenden Felder im Mosaik berührt wesentliche Punkte der Poesie. Persönliche Vorlieben treten hinter dieser Betrachtung zurück. Themen wie Liebe, Freundschaft, Natur und Vergänglichkeit, aber auch Gesellschaft, Politik und Widerstand beschäftigten die Dichter zu allen Zeiten in ganz eigener Art.

Die in diesem Gedichtband unternommene Zeitreise in "punktuelle Welterfahrungen" endet in der Gegenwart. Man sollte hier immer mal wieder hineintauchen, und ab und zu von neuem das Bündel der Meisterwerke deutscher Dichtung aufschnüren. Man wird immer bereichert von diesen Reisekurztrips innerhalb dieses weit gefassten Feldes zurückkehren.

Titelbild

Walter Hinck: Stationen der deutschen Lyrik. Von Luther bis in die Gegenwart - 100 Gedichte mit Interpretationen.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000.
240 Seiten, 30,60 EUR.
ISBN-10: 3525208103

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