Versuch über historische Gleichzeitigkeit

Hans Ulrich Gumbrechts "1926 - Ein Jahr am Rand der Zeit"

Von Sven AchelpohlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sven Achelpohl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichte trotz der Brüchigkeit jeglicher Form von Geschichtsschreibung neu zu denken ist eine Aufgabe, der sich Hans Ulrich Gumbrecht mit den Mitteln der synchronen Geschichtsschreibung angenähert hat und deren Ergebnis nun unter dem Titel "1926 - Ein Jahr am Rand der Zeit" vorliegt. Gumbrechts Ansatz ist auch eine Antwort auf die heftigen theoriegeleiteten Diskussionen in den Geisteswissenschaften der 80er und 90er Jahre, insofern diese Studie mit kalkulierter Willkür ein x-beliebiges Jahr aus dem Totum des Vergangenen herauspräpariert und sich vordergründig weder der Jahre davor noch danach annimmt.

Erst Gumbrechts gezieltes Vergessen ermöglicht somit das Jahr 1926 in der nötigen Klarheit abzubilden und entlastet den Historiographen von geschichtsphilosophischen und pädagogischen Zumutungen. Beseelt von dem Wunsch, "mit den Toten zu reden" und getrieben vom "Verlangen nach geschichtlicher Wirklichkeit" fegt der Autor das poststrukturalistische Gerede von Supplementarität vom Tisch und unterstellt, dass eben dieses Insistieren auf Abwesenheit ein Symptom eines ununterdrückbaren Verlangens nach Präsenz sei. Folglich will Gumbrecht sich einem "Zuhandensein" der Welt von 1926 bis an die Grenzen des Möglichen annähern. Als Reverenz an die Adresse der Postmodernen kommt er allerdings nicht umhin, seinem ganzen Projekt eine tiefgreifende Ironie einzuschreiben, da der Versuch, eine vergangene Welt zu re-präsentieren, von dem fundamentalen Bewusstsein ausgehen muss, dass eine solche Re-Präsentation unmöglich ist. Dennoch führt Gumbrecht nicht die Rede von einer "Erfindung" des Jahres 1926 im Munde - eine inflatorisch benutze Stilblüte aus den Gärten des Neuen Historismus, dem der Autor in aller Deutlichkeit eine Absage erteilt -, Gumbrechts approximativer Präsenzbegriff soll vielmehr dazu führen, dass die Schriftspuren des Chronisten eine begehbare Schneise in die Vergangenheit schlagen.

Leitend für Gumbrechts Methodik der synchronen Darstellung des zufällig ausgewählten Jahres 1926 sind sechs "Faustregeln für das Schreiben von Geschichte", die uns der Autor in der Rahmenerzählung ("Als es mit dem Lernen aus der Geschichte vorbei war") präsentiert. Wir begnügen uns hier mit den ersten beiden Faustregeln. Die erste Regel besagt, dass zwischen Vergangenheit und Gegenwart kein Kontinuum besteht. Damit entfällt auch die Notwendigkeit zum Nachweis der Relevanz bestimmter Jahre für den Geschichtsverlauf, die andernorts Schwellenjahre genannt werden würden. Eine in vielen Punkten mit Gumbrechts "1926" vergleichbare Darstellung, nämlich Jean Starobinskis "1789 - Les emblèmes de la raison", bezieht sich jedoch in diesem Punkt ganz ausdrücklich und damit diametral zu Gumbrecht auf den epochalen Stellenwert des Jahres 1789. Als zweite Faustregel folgt aus der ersten, dass auch innerhalb der zu untersuchenden Zeitspanne der selbstauferlegte Imperativ der Sequentialität außer Kraft gesetzt wird. Welche Ereignisse Eingang in Gumbrechts Studie finden, ermisst sich nun nicht mehr an deren Relevanz in bezug auf unsere Gegenwart, sondern an der Relevanz für die Welt im Jahre 1926, an ihrer Bedeutsamkeit für das zeitgenössische Erleben. Der Absage an den emphatischen Begriff des Ereignisses folgt bei Gumbrecht eine Ersetzung durch Begriffe wie Dispositiv, Code und zusammengebrochener Code. Die Alltagswelten von 1926 werden von Gumbrecht diesen drei Diskursebenen zugeordnet und zu einem enzyklopädischen System von Einträgen (entries) geordnet. Als Vorbild lässt der Autor Flauberts "Dictionnaire des idées reçues" gelten, wobei der Historiograph wie Flaubert hinter den eigenen Text zurückzutreten hat, damit eine Illusion des unmittelbaren Erlebens der Alltagswelt von 1926 auf den Leser übergreifen kann. Gumbrechts Studie verdankt aber nicht nur Flaubert sehr viel, sondern hat in diskurstheoretischer Hinsicht in Roland Barthes "Fragments d'un discours amoureux" einen weiteren klandestinen Vorgänger.

Aus den 51 Einträgen in "1926" können hier nur zwei exemplarisch vorgestellt werden. Unter dem Abschnitt "Dispositive" findet sich neben den Einträgen zu "Amerikanern in Paris", "Boxen", "Hungerkünstlern", "Pomade" und "Sechstagerennen" auch ein Eintrag zum Thema "Bergsteigen". An diesem Eintrag kann kurz gezeigt werden, welche rhizomatische Struktur diesen "entries" zu eigen ist. Ausgehend von einer kurzen Passage aus Hart Cranes Gedicht "North Labrador" entfaltet Gumbrecht neben einer Querverweisstruktur, die zu anderen Einträgen wie beispielsweise "Schweigen versus Lärm" und "Feuerbestattung" führt, auch ein Panorama der vielfältigen Verwendung des Eiswüstentopos im Jahre 1926: in einem kleinen Sonett, das im Januar in der Madrider Wochenzeitung "Blanco y Nero" erschienen ist, entdeckt Gumbrecht das regelmäßig wiederkehrende Muster der Verknüpfung von Eis mit erotischem Verlangen und Todesgefahr. Ähnliche Motive kehren in Schnitzlers "Traumnovelle", G. W. Pabsts Film "Geheimnisse einer Seele" und René Schickeles "Maria Capponi" auf. Der Eintrag gipfelt in der Beschreibung der Dreharbeiten zu Fancks "Der heilige Berg", bei dem sich sowohl vor als auch hinter der Kamera erotische Dramen abspielten.

Wie ergiebig eine weitergehende Analyse des Films wäre, wenn Gumbrecht nicht nur Leni Riefenstahls Memoiren zu Rate gezogen hätte, die in dem Film neben Luis Trenker zu sehen ist, zeigt ein Blick in eine kleine Filmkritik, die Siegfried Kracauer 1927 in der "Frankfurter Zeitung" über den "Heiligen Berg" veröffentlichte. Kracauer bezeichnet diesen Film als eine "gigantische Komposition aus Körperkulturphantasien, Sonnentrottelei und kosmischem Geschwöge", und weiter heißt es, "die Heldin könnte von Fidus entworfen sein". Dennoch muss auch Kracauer zugeben, dass die "Naturaufnahmen, um deretwillen diese Verschrobenheiten sich ereignen, zum Teil wundervoll sind". Später wird Kracauer die Vergötzung von Felsen, Wolkenbildern und Gletschern dem Antirationalismus der Nazis zuschlagen - ein Standpunkt der in Gumbrechts synchroner "kleinen Erzählung" keine Existenzberechtigung hat, gleichwohl Hitlers "Mein Kampf" dort oft zitiert wird. Doch belegen auch diese zusätzlich angeführten Texte geradezu die Relevanz des Eintrags "Bergsteigen" für eine Innenansicht der Alltagswelt von 1926. Interessant wäre es auch, den Eiswüstentopos mit Helmut Lethens Buch "Verhaltenslehren der Kälte" zu lesen.

Der zweite exemplarische Eintrag, der an dieser Stelle noch kurz erwähnt sei, ist der Eintrag "Dachgärten". Anhand Paul Morands Beschreibung eines Dachgartens in Vancouver verweist Gumbrecht auf einige zeitgenössische Codes wie "Authentizität versus Künstlichkeit" und verdichtet anhand dieses emblematischen Eintrags die damaligen Spannungen zwischen Natur und Zivilisation. Belege dafür findet Gumbrecht in zwei Aquarellen von Edward Hopper, die Dachlandschaften darstellen, "welche die Natur nachzuahmen scheinen". Verwandte Einträge führen zum Themenkreis "Boxen" (1926 wird auf einem Dachgarten ein Boxkampf zwischen Rudolph Valentino und einem Sportreporter ausgetragen) und zum Eintrag "Fahrstuhl", den Zeitgenossen als Sinnbild der Selbstbeschreibung der modernen Welt ansehen. Dass insbesondere Europäer von der Künstlichkeit der amerikanischen Dachgärten fasziniert sind, dafür lassen sich auch zahlreiche weitere Belege anführen, die zwar die zeitliche Begrenzung von Gumbrechts Studie sprengen würden, aber die Repräsentativität der Einträge belegen: Blaise Cendrars beispielsweise widmet einem Roof-garden die erste photographie verbale seiner "Kodak" betitelten Gedichtsammlung von 1924; Sigfried Giedions populäres Buch "Befreites Wohnen" von 1929 enthält Photographien vom Dachturnplatz des Hauses Guggenbühl in Paris und von einem 1928 von Le Corbusier gestalteten Haus in Ville d'Avray, das nur über eine Passerelle auf Höhe des Dachgartens betreten werden kann.

Kurzum, Gumbrechts Buch regt zu einer Vielzahl von weiterführenden Überlegungen an, und gerade die willkürliche Engführung der Untersuchung auf ein Jahr hat zu einer ungemein dichten Beschreibung der Lebenswelt geführt. Zudem ist es der Unbekümmertheit, mit der sich Gumbrechts "Tigersprung in die Vergangenheit" über Konventionen und geschichtsphilosophische Fallstricke hinwegsetzt, zu verdanken, dass dieses Buch mehr ist als nur ein Experiment in synchroner Geschichtsschreibung, sondern ein wichtiges Dokument dafür, wie nach dem Ende der Geschichte Geschichte erneut gedacht werden kann.

Titelbild

Hans Ulrich Gumbrecht: 1926 - Ein Jahr am Rand der Zeit.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
540 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 351858300X

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