Verwickelt ins Turiner Grabtuch

Jacques Neiryncks "Die letzten Tage des Vatikan"

Von Volker Maria NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Maria Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was würde wohl passieren, wenn es mit einer unzweifelhaften Methode gelänge, das Turiner Grabtuch als Fälschung aus dem 14. Jahrhundert nachzuweisen? Und was, wenn eine nicht minder unzweifelhafte Methode dieselbe Reliquie Christi als aus dem ersten Jahrhundert stammend bewiese? Jacques Neiryncks "Die letzten Tage des Vatikan" erzählt teils als utopischer, teils als historischer Roman von der Möglichkeit, daß beides gleichzeitig zutrifft.

Der Schweizer Physiker Theo de Fully erhält vom Vatikan den Auftrag, das Alter des Turiner Grabtuchs zu bestimmen. Sein jüngerer Bruder Emmanuel, katholischer Priester und Mitglied der vatikanischen Kongregation für Glaubensfragen, soll Theos Arbeiten mit den wachsamen Augen der heiligen Kirche verfolgen. Als Theos neuartige Radiokarbonmethode den Nachweis erbringt, daß das Tuch aus dem 14. Jahrhundert stammt, läuten die Glocken der Glaubenskongregation Sturm. Emmanuels Gottvertrauen ist dieser Situation nicht gewachsen. Er leidet an der Parkinsonschen Krankheit, die Ärzte weissagen ihm eine Lebenserwartung von weniger als einem Jahr. Krank an Leib und Seele flüchtet er nun in den Beistand seiner Schwester Colombe, einer Medizinerin, die in den USA als professionelle Sterbebegleiterin arbeitet. Eingeweiht in die heiklen Zusammenhänge mit dem Grabtuch sind neben dem Leiter der Glaubenskongregation anfänglich nur diese drei: die Geschwister de Fully. Doch als Teile der Forschungsergebnisse in die Presse gelangen, scheint die Katastrophe für das ohnehin marode Ansehen der Kurie perfekt. Es ist der (streng gläubige) Naturwissenschaftler selbst, der den verzweifelten Theologen einen Weg aus der Klemme anbietet. Theos krude Theorie über die molekulare Zusammensetzung des Grabtuchs würde das Ostermysterium nicht nur für den christlichen Glauben retten, sondern mit naturwissenschaftlichen Mitteln beweisen. Die einzige Möglichkeit einer Verifizierung besteht indes darin, das "Auferstehungsphänomen" an Gewebeproben der tatsächlichen Grabstatt Christi nachzuweisen. Folglich läßt der Vatikan das Grab des Herrn unter höchster Geheimhaltungsstufe in Jerusalem suchen. Ein erlesenes Forscherteam, dessen tatsächlichen Auftrag wieder nur der Vatikan und die Geschwister de Fully kennen, stößt im heiligen Land auf unerwartete Funde, die angetan sind, nicht nur das Ostermysterium, sondern das gesamte Christentum ad absurdum zu führen.

Dieser Plot birgt zweifellos so etwas wie einen Dauerbrenner an Brisanz. Die Frage nach der Koexistenz theologischer und naturwissenschaftlicher Wahrheiten stellt das Abendland nicht erst seit Galilei; sie ist stets neu, stets aufwühlend. Jacques Neirynck benutzt diese Frage gleichsam als Garant für das Interesse an seinem Roman nicht nur in theologischen Fachkreisen. Dieses strapazierfähige Interesse braucht Neirynck auch unbedingt, um seine Leser über vierhundert Seiten bei Laune zu halten, denn mitunter scheint es, als wolle er im Grunde etwas ganz anderes erzählen: die Geschichte der Psychologie des Starrkopfes Theo de Fully. Wir sollen eines Prototypen des logozentristischen Forschers gewahr werden, eines "homo faber" in Quadratur. Neirynck benötigt diesen Typus für die Entwicklung des thematischen Grundkonflikts im Roman, doch beläßt er es nicht bei diesem Anliegen. Die häufigen Stilisierungen seines Protagonisten sind bei aller Einsicht in des Autors Vorhaben dann doch zuviel des Guten. Bisweilen schweifen seine Ausführungen ins Komödiantische:

"Während er ein Johannisbeersorbet verspeiste, fiel ihm eine Studentin auf, die eifrig ihre Notizen durchsah. Der Algorithmus seines Lebens ließ mittlerweile die Option für eine Eheschließung zu, da er bereits einen Assistentenvertrag in der Tasche hatte, der es ihm gestatten würde, den Unterhalt einer Familie zu bestreiten. Er redete sich ein, daß er sich mit einiger Willensanstrengung verlieben könnte, konzentrierte sich darauf, während er noch einen Espresso bestellte, und als er überzeugt war, daß er diese erforderliche Empfindung in sich geweckt hatte, sprach er das Mädchen unter dem naheliegenden Vorwand an, ihr einige nützliche Tips für das Examen zu geben. [...] Noch am selben Abend, so gegen zehn, machte er ihr über den Resten einer zuppa inglese einen höflichen, aber angemessen leidenschaftlichen Heiratsantrag. Die junge Dame stammte aus dem Tessin, hieß Clara und blickte ihn mit verwunderten Rehaugen an, ohne ja oder nein zu sagen. Von diesem sprachlosen Staunen ermutigt, hielt Theo sich tatsächlich für verlobt."

Mit solchen Exkursionen in die Biographien der Romanfiguren zeichnet Neirynck auch die Geschwister des Emotionskrüppels Theo. Der introvertierte Emmanuel beispielsweise hat vor seiner wundersamen Läuterung in allen Einzelheiten psychisch labil zu sein; und die welterfahrene Colombe hat mit Reife und Menschenkenntnis ihre letztliche Überlegenheit dezent zurückzuhalten. So wirken die Figuren als Vollstrecker ihrer Rollen, fast programmatisch und etwas leblos. Daß es Neirynck trotz dieser unübersehbaren Schwäche seines Romans dennoch gelungen ist, ein gleichermaßen spannendes wie interessantes Buch zu schreiben, ist um so bemerkenswerter. Zu verdanken ist dies sicherlich in erster Linie der fleißigen Recherche und der fundierten Sachkundigkeit des Autors auf den verschiedenen Fachgebieten, die die vielfältige Handlung des Romans tragen. Locker schüttelt er Theos Ausführungen zur Molekularanalyse der Grabtuchpartikel aus seinem beredten Ärmel. Wenig Mühe bereiten ihm die notwendigen Berücksichtigungen archäologischer Besonderheiten am Berge Golgatha. Zu den wissenschaftlichen Fachgebieten, in denen der Erzähler Neirynck sicheren Fußes wandelt, gehört neben der Physik, der Religionsgeschichte und der Archäologie auch die Medizin.

Titelbild

Jacques Neirynck: Die letzten Tage des Vatikan. Roman. Aus dem Französischen von Ingrid Altrichter.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
395 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3805205856

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