Poesis incognita

Raoul Schrott über die "Erfindung der Poesie"

Von Jan WesterhoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Westerhoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jedem Besitzer eines Wörterbuches ist das Problem vertraut: entweder man besitzt ein Exemplar, das auch noch das entlegenste Vokabular aufführt, aber wegen seines Gewichts nur beidhändig aus dem Regal genommen werden kann, oder man verfügt über eine kleine Ausführung im Taschenformat, die auch noch im leichtesten Reisegepäck einen Platz findet. Das Problem ist dann nur, dass einem die meisten Wörter, die in dieser Basisversion verzeichnet sind, ohnehin vertraut sind und die Mitnahme deshalb eigentlich überflüssig ist.

Ähnliches gilt für Lyrik-Anthologien. Soweit es sich um wirklich voluminöse Gedichtsammlungen handelt, findet man dort in der Regel Erprobtes und Gelobtes, Be- und Anerkanntes, aber leider meist wenige Neuentdeckungen (Andreas Thalmayrs vor einiger Zeit in der "Anderen Bibliothek" erschienenes "Wasserzeichen der Poesie" bildet hier eine löbliche - und seltene - Ausnahme). Was man sucht, ist das Äquivalent zu einem Taschenwörterbuch, dass nur die Wörter enthält, die man nicht kennt: eine kompakte Anthologie, angefüllt mit dem lyrisch Unbekannten. Dieses nahezu Unmögliche zustande zu bringen ist Raoul Schrott nun in seiner Anthologie "Die Erfindung der Poesie" gelungen. Das meiste, was auf den fünfhundert Seiten dieses Bandes präsentiert wird, dürfte auch dem Lyrikkenner nicht vertraut sein. Schrott zeigt, dass wir den europäischen Kulturraum nicht verlassen müssen, um auf eine terra incognita zu stoßen. Setzen die üblichen lyrischen Sammlungen erst relativ spät ein, handelt es sich hier, so der Untertitel, um "Gedichte aus den ersten viertausend Jahren", also um die sonst wenig beachteten Uranfänge der lyrischen Dichtung. Das präsentierte Material erstreckt sich vom 24. Jahrhundert vor bis zum 14. Jahrhundert nach Christus; von der sumerischen und griechischen Lyrik über Catull, Properz, Abu Nuwas, Randnotizen irischer Mönche und Wilhelm von Poitiers bis zu mittelalterlicher walisischer Dichtung.

Zunächst muss man natürlich solcher Titanenarbeit, die nicht nur hervorragende Kenntnisse in mindestens zehn Sprachen sowie eigene lyrische Gestaltungsfähigkeiten - die bei Schrott ohne Zweifel vorhanden sind - erfordert, seine Achtung zollen. Gleichzeitig ist die Hebung eines solchen weithin unbekannten lyrischen Schatzes anzuerkennen, die ihn erstmals auch für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich macht. Sofort im Anschluss stellt sich allerdings die Frage, wieviel vom Glanz dieses Schatzes die Schrott'sche Fassung noch übrig gelassen hat. Hier ist zunächst die sehr gewöhnungsbedürftige, strikte Kleinschreibung zu erwähnen - die allerdings vertretbar ist, wenn man mit einbezieht, dass sie zur Übertragung bestimmter syntaktischer und semantischer Mehrdeutigkeiten unvermeidbar ist. Weit problematischer erscheint mir aber der Verzicht auf Nachbildung von Rhythmen und Metrik der Originale. Schrott begründet dies damit, dass "beide von den Eigenschaften des Wortmaterials in einer spezifischen Sprache abhängig sind." Dies ist zwar richtig, versperrt jedoch nicht generell den Weg zur Nachdichtung. Offensichtlich waren hier zwei Kriterien ausschlaggebend. Eine auf Rhythmik und Metrik verzichtende Übertragung ist leichter vorzunehmen und ermöglicht eine größere semantische Nähe zum Original. Weiterhin erhalten die so gewonnenen deutschen Gedichte mit ihren nunmehr freien Rhythmen einen ungewohnten, modernen Klang.

Beides trifft zwar zu, beachtet aber nicht genügend die gestaltende Wirkung der lyrischen Form in einem Gedicht. Eine Übertragung der Hexameter Catulls ohne Metrum ist ungefähr so wenig beeindruckend wie eine Schwarzweißphotographie von Caspar David Friedrichs "Männer in Betrachtung des Mondes" oder eine streichholzschachtelgroße Nachbildung von Michelangelos "David": hier werden wesentliche, das Original bestimmende Momente nicht wiedergegeben und somit nicht mehr als ein schwacher Abglanz des Originals geboten. Dies gilt für eine Ausgabe die auf parallelen Abdruck der Ausgangstexte verzichtet. Schrott scheint dies teilweise auch eingesehen zu haben und bietet die Übersetzungen der erratischen Sonette des Giacomo da Lentino in einer gereimten Fassung.

Die "Erfindung der Poesie" ruht also auf durchaus problematischen und nicht immer konsequenten übersetzerischen Grundlagen und vermag nur teilweise zu überzeugen. Der konzeptionelle Ansatz und die Auswahl der Texte jedoch ermöglichen eine grundlegende Erweiterung und Revision unserer Auffassung von den Ursprüngen der Poesie. Also: tamen est laudanda voluntas.

Titelbild

Raoul Schrott: Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren.
dtv Verlag, München 1999.
533 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3423127031

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