Ohne Konsequenz

Rolf Hochhuths gesammelte Einsprüche

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit nun mehr als vierzig Jahren versteht sich Rolf Hochhuth als Exponent einer politischen, eingreifenden Literatur. Während manch anderer Autor wachsam den sich entpolitisierenden Publikumsgeschmack registrierte und nach willkommeneren Themen suchte, blieb Hochhuth seiner Haltung treu. Nonkonformist war er freilich schon, als Literatur und Protest noch in engem Zusammenhang standen. Bereits in den sechziger Jahren stand er bewusst quer zu allen Rechts-Links-Schemata.

Die neun Essays, die, mit einem kurzen Geleitwort von Gert Ueding versehen, nun vorliegen, waren teils unpubliziert, teils aber sind sie Wiederabdrucke. Der früheste Text entstand 1965, trägt den selbstbewussten Titel "Der Klassenkampf ist nicht zu Ende" und provozierte den damaligen Bundeskanzler Erhard zu seiner berühmten Beschimpfung der kritischen Intellektuellen als "Pinscher"; der neueste Essay ist von 1999. In ihm fordert Hochhuth die Rückkehr von Reinhold Begas' Bismarck-Denkmal vor das Reichstagsgebäude. Das bedeutet keinen Wandel vom linken Barrikadenkämpfer zum preußischen Ordnungsdenker - Hochhuth schätzt Bismarck gerade als Sozialpolitiker wie als besonnenen Diplomaten und sieht ihn damit links vom heutigen Wirtschaftsliberalismus wie von der gegenwärtigen aggressiven Außenpolitik.

Hochhuth lässt sich kaum je von Ideologien verführen und sieht auch die Schwachstellen der gegenwärtig noch siegenden neoliberalen Demokratien. Er ist kein Systematiker, und vielleicht gelingen ihm deshalb zuweilen überraschende Gedankengänge, die anregend sind, auch wo man ihnen nicht zustimmen mag. Dennoch lassen sich einige Konstanten herauskristallisieren, die fast alle der versammelten Essays prägen.

Ein unzeitgemäßes soziales Bewusstsein zieht sich durch nahezu alle Texte; Hochhuth versteht sich als Anwalt der Unterprivilegierten. Ästhetisch findet dies seine Entsprechung in einer deutlichen Frontstellung gegen jedes l'art pour l'art. Er stellt sich in die Tradition eines sozial engagierten Naturalismus, wie er ihn etwa bei Gerhart Hauptmann findet.

Hochhuth bleibt resistent gegen die je neuesten Moden wohl auch, weil Moral für ihn eine zentrale Rolle spielt. Für ihn zählt die Entscheidung des Individuums, nicht dessen Funktionsweise in einem System - weshalb er auch bei allem sozialen Engagement als strikter Gegner des Marxismus auftritt. Hier schon deutet sich die Grenze des systemfeindlichen Denkens an und scheitert auch jede Verständigung mit anderen Ansätzen. Ein kurzer Essay ist betitelt mit der Scheinfrage: "Was weiß eine Generation von der anderen?" Hochhuth polemisiert dort gegen junge Historiker, die nach der Funktion von Personen und Institutionen im deutschen Faschismus urteilen, nicht jedoch nach der subjektiven Aufrichtigkeit von Menschen, die sich in einem Zwangssystem bewegen mussten.

Mit dem Begriff der Generation, den Hochhuth wohl mehr noch resignativ biologisch als von erklärbaren sozialen Erfahrungen her fasst, entfernt er sich freilich vom Individuellen. Besonders in den späteren Texten leitet dies zu einem Pessimismus über, den Hochhuth sowohl von Schopenhauer herleitet als auch von seinem Diktum: "Geschichte ist Naturgeschichte".

Damit freilich ist ein Gegenpol zum individualistischen Ausgangspunkt erreicht, ohne dass der erste Ansatz aufgegeben würde. Leider verschenkt Hochhuth die produktiven Möglichkeiten dieses Spannungsverhältnisses. Im gesamten Band wie in den einzelnen Texten zeigt sich, dass das nichtsystematische Denken auch seinen Nachteil hat: kaum irgendwo ist Mühe um gedankliche Konsequenz zu erkennen. Der Appell an individuelle Moral und der resignative Blick aufs Ganze sind nirgends vermittelt. Politisch am deutlichsten zeigt sich das schon am Klassenkampf-Essay von 1965: Hochhut sieht richtig, dass der Klassenkampf von oben nie aufgehört hat, fordert Widerstand, lehnt allerdings Verstaatlichung - den kollektiven Lösungsversuch der sozialistischen Länder - ab. Dagegen wünscht er sich Aktienbesitz auch der Arbeiter und verschwendet keinen Gedanken daran, dass der Arbeiter, den Betriebsvereinbarungen zum wie auch immer zu vernachlässigenden Anteilseigner befördern, wohl kaum klassenkämpferischer gestimmt sein dürfte als zuvor.

Die durchgehende Vermittlungsschwierigkeit von Übergreifendem und Individuellem beeinträchtigt auch den Blick auf Kunst. Der Essay "Machthaber und Machtlose in der Kunst" setzt ein als Klage über materiell abgesicherte Theaterintendanten und Kritiker, die über Wohl und Wehe des ungesicherten Autors entscheiden. Ein umfangreicher Mittelteil polemisiert gegen den Theaterkritiker Friedrich Luft und kontrastiert dessen Mängel, um sie finsterer erscheinen zu lassen, mit den Meriten aller seiner Kollegen. Wäre der Text nicht lange vor dem Zeitalter der PCs geschrieben - man vermutete eine Kompilation verschiedener Dateien auf der Festplatte, die, da nun einmal getippt, allein deshalb auch unbekümmert um einen Zusammenhang publiziert werden sollten. Das schlechte System, der schlechte Mensch - Allgemeines und Besonderes kommen nicht zusammen.

Mangelnde Stringenz beeinträchtigt allerdings nicht nur Aufbau und Inhalt der Essays, sondern zudem ihre sprachliche Form. Besonders der Satzbau ist schlimm. Ueding sieht Hochhuths Sätze als "gesprochene Syntax, seiner eigenen Redeweise nachgebildet". Das mag sein; Uedings folgende Versicherung, das Gesprochene sei ins Medium der Literatur transformiert, trifft jedoch leider nicht zu. Unübersichtliche Gebilde voll unnötiger Einschübe können sich durchaus über eine halbe Seite erstrecken, ohne dass ein Kompositionsgesetz sichtbar würde. Was im mündlichen Vortrag als engagiertes Überzeugen wirken mag, stellt den Leser, dem die Betonung fehlt, vor arge Probleme. Die Gedanken wirken deshalb improvisiert, vielfach wenig durchdacht.

Das ist kein vorsichtiges, offenes Tasten. Hochhuth hat den Mut, sich festzulegen, und er scheut auch keine persönliche Polemik, selbst nicht gegen anerkannte Größen. Das ist grundsätzlich zu begrüßen. Für Positionen stehen Personen; vornehme Dezenz, wohlerzogene Zurückhaltung verhindern nur notwendigen Kampf. Sprachlich allerdings ist Hochhuth seinem Vorhaben nicht gewachsen. Hegel etwa eine "kindische Hoffnung" auf Fortschritt in der Geschichte zu attestieren, durch Anführungzeichen Ernst Schumacher zum "Theater-'Wissenschaftler'", der zudem "rührend alberne Sätze" schreibe, zu verkleinern, bewegt sich weit unter dem Niveau der Angegriffenen. Das ist schlechte Polemik; wo auf gute zu hoffen bleibt.

Überhaupt bleibt Hochhuths Protest punktuell, hakt etwa bei einem Satz ein, der ihm nicht gefällt. Wo ein zeitgenössischer Kritiker Hauptmanns "Rose Bernd" abwertet, weil das Stück eher novellistische als dramatische Züge zeige, setzt sich Hochhuth gar nicht erst mit der in der Tat fragwürdigen Gattungspoetik auseinander, die hinter einer solchen Wertung steht. Er sieht in seiner Wut nichts als "widerlichen Schwachsinn" und verschenkt für die Moral die Klärung der Sache.

Nachlässig ist auch der Band im Ganzen. Viele Gedanken wiederholen sich, was bei der Dokumentation schon publizierter Texte vorkommen mag, nicht aber in unveröffentlichten und deshalb leicht zu kürzenden Essays. - Wo es um "Einsprüche" geht, geht es um konkrete Verhältnisse, gegen die Einspruch zu erheben ist. Eine Seite mit Textnachweisen gibt dagegen irgendwelche Belege, nicht aber die Erstdrucke; was den Klassenkampf-Essay angeht, weiß etwa Ueding von seiner Veröffentlichung im "Spiegel" 1965, gibt das abschließende Verzeichnis jedoch einen Druck von 1971 an, in einem gänzlich veränderten Kontext also. Der Essay gegen Luft mag tatsächlich 1996 wieder gedruckt worden sein. Geschrieben ist er mit Sicherheit weitaus früher, da der 1921 geborene Dürrenmatt im Text als Fünfzigjähriger auftritt. Das ist eine gerade hier ärgerliche editorische Nachlässigkeit, die leicht zu vermeiden gewesen wäre. Für eine nötige kritische, eingreifende Literatur ist hier eine Chance vertan.

Titelbild

Rolf Hochhuth: Einsprüche! Zur Geschichte, Politik und Literatur.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2001.
255 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3421057060

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