Justins Geschichte vom Daumenlutscher

Struwwelpetergeschichten im Amerika der 80er Jahre

Von Heike NiederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Nieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Konrad und Justin haben zweierlei gemeinsam: Beide lutschen am Daumen und beiden will man es abgewöhnen. Doch im Gegensatz zum Struwwelpeter-Konrad, der in den geordneten Verhältnissen des 19. Jahrhunderts lebt, bewegt sich der 14-jährige Justin Cobb im Amerika der 80er Jahre und um ihn herum regiert das Chaos. Sein Vater jagt Hirsche und will Justin das Daumenlutschen aus Kostengründen abgewöhnen, seine Mutter möchte Don Johnson treffen und Perry Lyman, sein Zahnarzt, raucht Marihuana. Dementsprechend fällt die Behandlung von Justins lästiger Angewohnheit aus: Weitaus schmerzloser, als der "Schneider mit der Scher'" Heinrich Hoffmanns Konrad bearbeitet, versucht es Lyman mit Hypnose. Und er hat Erfolg, wie wir bald von dem Ich-Erzähler Justin erfahren: "Zum letzten Mal suchte ich Trost bei meinem Daumen [...] doch [... ich spürte] nichts - keinen Trost, keine Erleichterung. Mein Daumen fühlte sich genauso tot an wie mein ganzer Körper."

Doch wo die Geschichte von Konrad endet, fängt die von Justin erst an. Seines Daumens beraubt probiert Justin nämlich, das "ausgetrocknete Loch", wie er seinen Mund von dem Zeitpunkt an bezeichnet, anderweitig zu stopfen. Und das geschieht nicht ganz ohne Verwirrungen, nicht nur für Justin, sondern auch für den Leser.

So berichtet Justin nach seiner Hypnosetherapie am Anfang des zweiten Kapitels: "Als Nächstes verlor ich die Lust am Essen, meinen Appetit. Es war, als würde sich mein Mund gegen mich wenden." Der Leser erwartet, dass im Anschluss an diese Sätze die Folgen der Appetitlosigkeit geschildert werden, schließlich ist sie die Konsequenz des Daumenverlusts. Doch was Justin großartig einleitet, findet im Rest des Kapitels keine Erwähnung mehr.

Nicht minder irritierend sind die zeitlichen Sprünge in Justins Erzählung. Am Anfang der Geschichte erfährt man, dass er 14 Jahre alt ist. Danach bleibt es allerdings dem Leser überlassen, sich anhand der in Nebensätzen erwähnten Jahreszeiten auszurechnen, wie viel Zeit zwischen den einzelnen, episodenhaft erzählten Ereignissen verstrichen ist. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn die einzelnen Passagen spannend genug wären, um vom verwirrenden Aufbau des Gesamttextes ablenken zu können. Auch die durchaus komischen Elemente des Textes können das nicht leisten.

Im zweiten Teil der Geschichte wird eine mögliche Begründung für Justins sprunghaften Erzählstil geliefert: Er ist hyperaktiv, wie sein Zahnarzt feststellt. Und Hyperaktiven fällt es schwer, "etwas zu Ende zu bringen." Dem Leser ist mit dieser Erklärung nicht geholfen. Dem Erzähler soll die Verschreibung eines Medikaments helfen. Als er es einnimmt, hebt sich Justins Stimmung schlagartig: "Ich habe mich verändert. Ich bin ein besserer Mensch. Es funktioniert." Er hat das erste Mal das Gefühl, er selbst zu sein, genau wie der Zahnarzt, der, seit Justin ihn zum ersten Mal aufsuchte, ebenfalls eine Wandlung durchmachte: Nach einigen privaten Schicksalsschlägen hat sich der Hippiedoktor in medizinische Behandlung begeben und ist nun zum patriotischen Nationalgardisten mutiert. Schon bald beneidet Justin seinen Zahnarzt um dessen neues Leben. Er hat festgestellt, dass seine Euphorie nach jeder Pille nur künstlich ist und zudem noch eine weitere Nebenwirkung zu spüren bekommen: Er ist abhängig geworden. Seine verzweifelten Versuche, das Medikament wieder loszuwerden, scheitern kläglich.

Und als ob Justin nicht schon genug eigene Probleme hätte, wird er schließlich auch noch zum Seelenklempner seines Vaters, der den Tod seines ehemaligen Football-Trainers nicht verkraftet. Als eines Tages zwei Missionare der Mormonen vor der Tür stehen, lässt Justin sie ein und glaubt so, seine Familie, die nie gläubig war, bekehren und damit retten zu können. Denn eigentlich ist es das, was Justin die ganze Zeit wollte: eine intakte, harmonische Familie, in der er akzeptiert wird, wie er ist. Eine Gemeinschaft, in der es jedem gut geht. Ein Stück weit schaffen es die Mormonen sogar, Justins Wunsch zu erfüllen. Und damit nicht genug: Sie gewöhnen ihm sogar das Ritalin ab, auf recht ungewöhnliche Art und Weise.

Nach einigen weiteren abstrusen Episoden legt der mittlerweile erneut gewandelte Zahnarzt dem Protagonisten - und vielleicht auch dem Leser - nahe, sich mit seiner "menschlichen Unordnung" abzufinden. Und so endet die Geschichte, wie sie begonnen hat. Als Justin im Flugzeug nach New York aus einem Nickerchen erwacht, hat er ihn wieder im Mund: seinen Daumen.

Und die Moral von der Geschicht'? Pah, Moral! Die gibt es nicht! würde Walter Kirn vielleicht sagen. Möglicherweise hat Kirn als angesehener Literaturkritiker - er schreibt unter anderem für das "New York Magazine", für "Time" und "The New Yorker" - gründlich die Nase voll von moralisierenden Romanen und die Absicht, mit Erwartungen des Lesers an irgendeine sinnvolle Botschaft des Textes zu spielen. Wer bei dem Spiel gewinnen kann, bleibt in diesem Fall allerdings fraglich. Der Leser jedenfalls nicht.

Titelbild

Walter Kirn: Daumenlutscher. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Christian Lutze.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001.
316 Seiten, 11,70 EUR.
ISBN-10: 3462029908

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