Nachtkarst oder Labyrinth der Sinne

Károly Kollers lyrische Expedition in den Karst

Von Natalie ReutlingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalie Reutlinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer der Bedeutung des Wortes "Nachtkarst" näherkommen will, muss sich zunächst mit der Definition von Karst zufrieden geben - einer Gesteinsform, die durch die Wirkung von Oberflächen- und Grundwasser in löslichen Gesteinen wie Kalk und Gips entsteht. Was nun Karst im Zusammenhang mit Nacht bedeutet, sagt uns der Lyriker Károly Koller.

Der erste Gedichtband des leidenschaftlichen Höhlenforschers profitiert von einem außergewöhnlichen Hobby. Natur, Bergwelt und Höhlen(er)forschung sind die zentralen Themen. Dabei sind es keine klassisch-schönen Naturbeschreibungen, die uns das lyrische Ich präsentiert. Es ist vielmehr eine beobachtende Art, die nicht an der Oberfläche halt macht und ausschweift, sondern, nach Art der Höhlenforscher soweit als möglich in die Tiefe dringt: "ABENDHIMMEL ZIEHT VORBEI / der wolkenhahn geht tief / im wasser der winde- / der kiel streift / die gipfel".

Koller zwängt seine Verse weder in Reime noch in Metren. Formaler Aufbau und Anordnung der Strophen dienen dem "Ausloten" des Raumes. So wird der Fall eines Steines optisch-visuell durch ein langezogenes Satzbild deutlich gemacht.

Gedichte als Etappen einer Höhlenexpedition. Wir erleben den Aufstieg des Berges in der Morgendämmerung, das Eindringen in die Höhle, ein immer tieferes Hinabtauchen in ein unbekanntes Dunkel. Landschaftsbilder sind Körperbilder. Hindernisse machen sich breit, doch dies bringt uns nicht aus der Ruhe. Im Gegenteil. Wir beobachten, wir hören, wir fühlen: "mit bloßen Händen ertastend / die Astronomie der Töne". Hellwach, auf all unsere Sinne hörend, folgen wir dem lyrischen Ich in die Unterwelt. Und merken allmählich, dass wir in der Höhle namens Mensch forschen: "sie wachsen einander zu / sie spüren einander in der stille".

Der ruhige geduldige Grundton und die intensive Wahrnehmung der Umgebung mit allen Sinnen repräsentieren eine Welt, die die wenigsten kennen, in der die innere Uhr langsamer zu ticken scheint. Wachsamkeit und Sorgfalt bringen den höchsten Gewinn. Der Blick gilt dem Äußeren wie dem Inneren. Vor allem darin besteht die Besonderheit der Gedichte: Kollers Worte lassen unsere Blicke schweifen und tiefer sehen und bedeuten Kontemplation.

Titelbild

Kàroly Koller: Nachtkarst. Gedichte.
Lichtung Verlag, Viechtach 2000.
64 Seiten, 9,10 EUR.
ISBN-10: 3929517353

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch