Der Briefwechsel der Brüder Grimm mit Herman Grimm

Zum ersten Band der "Kasseler Ausgabe"

Von Lothar BluhmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lothar Bluhm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Edition des "Briefwechsels der Brüder Grimm mit Herman Grimm" als der erste Band der "Kasseler Ausgabe" darf sich besonderer Aufmerksamkeit sicher sein. (Neu-)Editionen von Briefwechseln Jacob und Wilhelm Grimms als zentralen Gestalten der frühen Deutschen Philologie kommt allemal ein weites Interesse zu. Herman Grimm, der Sohn Wilhelm und Dorothea Grimms und Neffe des von ihm "apapa" genannten Grimm ist in den letzten Jahren ebenfalls zunehmend ins Blickfeld der Grimm-Forschung gerückt. Wer sich vom Inhalt der Briefe indes einen vertieften Einblick etwa in die wissenschaftliche Arbeit der Grimms oder gar neue Erkenntnisse verspricht, wird enttäuscht. Es handelt sich um einen typischen Familienbriefwechsel, der eher dem Alltäglichen, dem Familienleben und den jeweiligen Befindlichkeiten der Korrespondenten, des Familien- und Bekanntenkreises gewidmet ist. Die Entscheidung des Editors, auch den Briefwechsel Hermans mit der Mutter einzubeziehen, ist vor diesem Hintergrund unbedingt gerechtfertigt. Die erhaltene Korrespondenz umfasst über 250 zumeist erstpublizierte Briefe; 159 stammen von Herman, 27 von Jacob, 23 von Wilhelm und 45 von Dorothea Grimm. Die Briefe gehören in ihrer überwältigenden Mehrzahl in die Berliner Zeit der Grimms ab 1840; wissenschaftsgeschichtlich ist es die Phase der Arbeit am "Deutschen Wörterbuch".

Für den später als Kunsthistoriker und Goethe-Forscher selbst berühmt gewordenen Herman Grimm sind es die Jahre seiner frühen Entwicklung als Schriftsteller und junger Gelehrter. Er war als ältester Sohn in einem Philologenhaushalt aufgewachsen, dem neben dem Vater auch der Onkel angehörte. Die entsprechende Förderung war selbstverständlich und ging über die Kernfamilie hinaus. Nach Schule und Hochschulreife beginnt er ein Studium der Rechtswissenschaften in Berlin und z. T. in Bonn, das Herman Grimm aus Krankheitsgründen jedoch nicht abschließen wird. Die helfende, gelegentlich auch dirigierende Hand des Vaters ist ständig spürbar - auch, als in den 1850er Jahren die künstlerischen Interessen des Sohnes zu einer erstaunlich schnellen und breiten literarischen Tätigkeit führen. Dramen, Lyrik, Essays und Novellen entstehen in dichter Folge und werden - nicht zuletzt dank der Protektion durch den Vater - schnell publiziert oder auf die Bühne gebracht. Trotz eines unbestreitbaren Talents, das ihm das Lob selbst eines Fontane, eines Geibel oder Heyse einbrachte, vermochte der junge Grimm sich als Künstler indes nicht durchzusetzen. Eine Italienreise 1857 markiert schließlich den Einschnitt und weckt die Begeisterung für die italienische Kunstgeschichte und insbesondere für Michelangelo, die das weitere gelehrte Leben prägen wird.

Die Einleitung des Editors Holger Ehrhardt informiert sachkundig über den biographischen Hintergrund des Briefwechsels und insbesondere den Hauptkorrespondenten. Zur Einleitung gehört auch eine editorische Notiz, die kurz in die Ausgabe einführt. Über die "Richtlinien zur Edition und Kommentierung" erfährt man allerdings nicht viel: "Diese werden in Kürze im 'Jahrbuch der Brüder Grimm-Gesellschaft' veröffentlicht." Das war 1998; im soeben erschienenen Jahrbuch, Band 7/1997, finden sie sich noch nicht - der Benutzer muss also weiter auf eine Veröffentlichung in einem der nächsten Jahresbände warten. Indes wird in der Notiz bereits auf ein wichtiges Kriterium der Edition hingewiesen: das "Prinzip des 'Abmalens'". Dazu gehört etwa, dass die Autographen in ihrer optischen Gestaltung und die zeitgenössischen Währungszeichen und Maßangaben möglichst dokumentarisch wiedergegeben werden. Die Vorgehensweise gewährt ein hohes Maß an Authentizität, macht aber auch eine Vielzahl von Herausgeberzusätzen im Text selbst erforderlich. In Einzelfällen überzieht der Editor die Notwendigkeiten einer dokumentarischen Wiedergabe sicherlich - etwa bei der Beibehaltung der damals gängigen Geminationsquerstriche (statt sie aufzulösen) oder bei der an sich sinnlosen graphischen Unterscheidung eines langen vom kurzen "s" und der Einführung eines entsprechend 'abgemalten' Druckzeichens. Hier und in manchen anderen Fällen wäre etwas mehr Mut zum editorischen Eingriff angebracht gewesen. Doch sind das letztlich Marginalien. Insgesamt handelt es sich um eine vorbildliche Edition, die den Text in wünschenswerter Akribie erschließt. Schade allein und editorisch problematisch, dass bei zwei Briefen die mitgeteilten Märchenaufzeichnungen Herman Grimms an seinen Vater schlichtweg ausgespart wurden, da sie - wie die Einleitung aufklärt - "eindeutig vom Brief abgrenzbar waren und außerdem an anderer Stelle bereits veröffentlicht und wissenschaftlich aufgearbeitet sind". Der erste Teil der Begründung ist zumindest mit Blick auf die edierten Briefreste nicht nachvollziehbar, da diese sich explizit auf die Aufzeichnungen beziehen (diese also keine Beilagen im eigentlichen Sinne sind); die anderen Teile der Begründung sind editorisch irrelevant. Zudem sind die 1863 in einem Jahrbuch veröffentlichten Märchenmitteilungen einem heutigen Benutzer kaum sogleich greifbar.

Die Briefkommentare sind akribisch erarbeitet: Fußnoten bieten Einzelstellen-Erläuterungen und ein gesonderter Apparatteil bietet Überlieferungsnachweis und Dokumentenbeschreibung; im Einzelfall werden Erläuterungen zur Datierung gegeben. Ein wenig verloren sind hier die Kuvert-Anschriften, die man sich im Textteil gewünscht hätte. Verschiedene Register ergänzen die Kommentierung und tragen zur Benutzerfreundlichkeit bei. Die Edition verdient ein uneingeschränktes Lob und setzt einen hohen Maßstab für die nachfolgenden Bände der 'Kasseler Ausgabe' und die der konkurrierenden 'Kritischen Ausgabe' im Rahmen der im Hirzel-Verlag erscheinenden "Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm" (vgl. www.grimmnetz.de). Die Grimm-Philologie ist um eine Musteredition reicher.

Titelbild

Jacob Grimm / Wilhelm Grimm / Hermann Grimm: Briefwechsel mit Herman Grimm (einschließlich des Briefwechsels zwischen Hermann Grimm und Dorothea Grimm, geb. Wild).
Herausgegeben und bearbeitet von Holger Ehrhardt.
Brüder-Grimm-Gesellschaft, Kassel 1998.
616 Seiten, 98,20 EUR.
ISBN-10: 3929633639

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