Marginale Differenzen

Ein Sammelband nähert sich von allen Seiten der Übersetzungstheorie Walter Benjamins

Von Jan MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im umfangreichen theoretischen Gesamtwerk Walter Benjamins stellen vor allem seine sprachphilosophischen Überlegungen eine harte Nuss dar, an der sich schon Vertreter der verschiedensten Ansätze intellektuell die Zähne ausgebissen haben. In nuce findet sich diese Nuss in einer Theorie des Übersetzens verdichtet, die Benjamin seinen Baudelaire-Übertragungen als schwer verdauliches Vorwort beigab. Ihr widmet sich eine von Christiaan L. Hart Nibbrig herausgegebene Aufsatzsammlung, die Nachschub für philosophische Dentisten verspricht.

Das Sujets geht auf ein internationales Kolloquium im Juni 1993 in Lausanne zurück. Aus diesem Umstand resultiert gleich zu Beginn ein Wermutstropfen in der beim ersten Schluck wohlschmeckenden Mischung: Wenigstens drei der 16 Beiträge sind explizit gekürzte Vorträge oder Fragmente aus größeren Publikationen zu Walter Benjamin. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass die Abstimmung der Essays aufeinander mitunter nicht unmittelbar einleuchtet. Die ungeschickte Entkontextualisierung schlägt sich hinsichtlich mancher Aufsätze leider darin nieder, dass sich diese alles andere als rund und abgeschlossen lesen lassen.

Im Einzelnen präsentieren sich die Ansätze so unterschiedlich, wie sie angesichts des eng gesteckten Themenfeldes nur sein können. Eher verspielt und bisweilen frei assoziativ erscheint das dekonstruktivistische Herangehen Thomas Schestags. Aus einer Untersuchung des Lampenmotivs nicht nur bei Benjamin versucht er epistemische Konstellationen herzustellen und balanciert dabei waghalsig auf dem schmalen Grat zwischen Sinn und Unsinn.

Aus der gleichen Richtung betrachten Rainer Nägele und Bettina Menke die Echo-Metapher im Übersetzeraufsatz. Nägele interpretiert die Verwendung des Echobildes als Enthüllung von Sinn in einem Raum, der dem Sinn selbst den Sinn abspräche. Irritierend sei in dieser Hinsicht Benjamins Insistieren auf Sinn. Möglicherweise offenbare dieser sich in Echo und Echolalie in einer Fühlbarkeit "über alle Mitteilung hinaus".

Überzeugender ist Menkes Rekonstruktion der dem Echo einbeschriebenen Differenz. Die Echotrope rede vom Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Dem entsprächen in der Übersetzung die Art des Meinens und das Gemeinte. Mit viel Feingefühl für Benjamins Erwägungen etabliert Menke schließlich das Echo unter Zuhilfenahme erstaunlicher Quellentexte des Barock als "Allegorie der Allegorie des Barock".

Auch Alexander Garcia Düttmann beschreibt die der Sprache immanente Sinndifferenz, die erst eine Dialektik von Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit ermöglicht. Dabei entfernt er sich mitunter bedenklich weit von Benjamins eigenen Überlegungen.

Den Parallelen zwischen der Sprachauffassung Benjamins und Mallarmés spürt Hans Jost Frey nach. Letztendlich bleibt er den Überlegungen Mallarmés näher, wenn er schließt: "Das gemeinsame Gemeinte der Sprache ist nur ein gemeintes Gemeinsames."

Irving Wohlfarths längerer Beitrag "Das Medium der Übersetzung" überzeugt erwartungsgemäß nicht durch bahnbrechende neue Erkenntnisse, sondern durch die hervorragende Explizität seiner methodischen Rekonstruktion der Benjaminschen Übersetzungstheorie. Die große Nähe zu den Quellentexten kontrastiert gekonnt mit einer kritischen Betrachtung der Sprachtheologie im Laufe der Entwicklung Benjamins hin zum historischen Materialismus.

Ähnlich dicht an Benjamins eigentlicher Philosophie und mit einigen Überschneidungen zu Wohlfarth untersucht Peter Fenves die "Unterlassung der Übersetzung". Besonders aufschlussreich ist seine Untersuchung der paradoxen "tautologischen Form der Übersetzung", die dennoch eine Bewegung zwischen den monadisch abgeschlossenen Sprachen des Originals und der Übersetzung darstellt. Die Freiheit der Übersetzung, die als "Platzhalter für das Nichts" fungiert, hebe schließlich das Tautologische auf, so dass die Aufgabe des Übersetzers nurmehr die Unterlassung des Übersetzens sei.

Benjamins Verwerfung des Subjekt-Objekt-Modells der Erfahrung nimmt Werner Hamacher zur Grundlage seines umfangreichen Versuchs, dessen Übersetzungstheorie mit der Geschichtsphilosophie einerseits und mit Kants Transzendentalphilosophie andererseits in Verbindung zu bringen. Auch in der Übersetzung zeige sich geschichtliche Diskontinuität. Übersetzbarkeit, "das Transzendental der Sprache", sei mithin Geschichtlichkeit. Etwas bemüht erscheint dagegen Sigrid Weigels Rekonstruktion der Mimesis-Aufsätze, derzufolge Benjamin eine psychoanalytische Reformulierung seines Sprachaufsatzes intendiert habe. Im Begriff der "Entstellung" treffen demnach psychoanalytisch korrigierte "Sprachmagie" und historischer Messianismus zusammen und offenbaren sich als "Sprache des Unterbewußten".

An der Philologie orientiert nähern sich Beryl Schlossman, Heiner Weidman und Roger W. Müller Farguell der "Aufgabe des Übersetzers". Die beiden ersteren nehmen dazu Benjamins Baudelaire-Übertragungen in den Blick. Schlossman liest Benjamins Fassung des "Fleurs du Mal"-Sonnetts "A une Passante" als eine Interpretation und Kritik der Moderne. Weidmann untersucht grundsätzlich die Genauigkeit der Baudelaire-Übertragung und versucht etwas exoterisch die Differenzen hinterher in der Theorie Benjamins wiederzuentdecken.

Farguell schließlich folgt dem Proustschen "spontanen Eingedenken" der "Temps perdu". Seine selbst als "dialektische Dekonstruktion von Erinnern und Vergessen" charakterisierte Bemühung korrigiert Benjamins Theorie des Übersetzens anhand des Proust-Aufsatzes zu einer "Theorie des Eingedenkens".

Zwei Glanzstücke, wiewohl nur verhältnismäßig kurz, stellen die Beiträge Willem van Reijens und Susan Bernofskys dar. Van Reijen geht von der Dialektik von Konzentration und Zerstreuung aus, die er in der Gestalt des Sammlers aufgehoben sieht. Der Sammler und der von Benjamin als dessen "Gegenpol" beschriebene Allegoriker sind in der ihnen gemeinsamen Aufgabe des Erinnerns vermittelt. Durch diese dem Übersetzen eng verwandte Tätigkeit offenbaren sich Sammler und Übersetzer, wie Benjamin einer war, als "Sachverwalter historischer Wahrheit". Bernofsky hingegen stellt im Rückgriff unter anderem auf die "Berliner Kindheit" Benjamins Konsequenz bei der Darstellung philosophischer Methode in syntaktischer Form heraus. Benjamins Syntax spiegele einerseits in der Verbstellung sein messianisches Geschichtsbild und mache andererseits die Erfahrung und Melancholie des beständigen "Lesenlernens" mittelbar. Das hat zwar zunächst nichts mit dem Übersetzen zu tun. Dennoch überzeugt Bernofskys dichte und gescheite Betrachtung eines fälschlicherweise als Randgebiet missverstandenen Aspekts des Benjaminschen Werks durch reflektierten Quellenbezug und ungewohnt sensible stilistische Qualität.

Im Vorwort befürchtet der Herausgeber, den gesammelten Beiträgen seien wohl am ehesten Ausgangsfragen und ein offenes, neue Fragen evozierendes Ende gemeinsam. Man möchte ergänzen: Auch inhaltlich sind die Differenzen oft marginal. Das mag freilich durch den eng bestimmten gemeinsamen Gegenstand erklärt werden. Die Hoffnung auf einen Querschnitt der aktuellen Diskussion über Benjamins Sprachphilosophie erfüllt sich dadurch trotzdem nicht. Versucht man die Beiträge in einen größeren Gesprächszusammenhang einzureihen, reden sie eigentümlich aneinander vorbei. Die vielfach beschworene Echo-Metapher aus Benjamins Übersetzeraufsatz ist unmittelbar erfahrbar in den bisweilen ermüdenden inhaltlichen Wiederholungen. Leider eignen sich diese bestenfalls als verschiedene Übersetzungen interpretierbaren Parallelen nicht dazu, die Erkenntnis wiederzuholen, wie Bettina Menke mit einem augenzwinkernden Blick auf Derrida vorschlägt.

Dieser Eindruck ist auch auf die Auswahl des Herausgebers zurückzuführen. Unmotiviert stechen einige Beiträge aus dem gestifteten Kontext heraus und verschleppen den Dialog mehr, als dass sie ihm zuträglich wären. Andere wiederum reißen die selben Fragen an, ohne zu nennenswert unterschiedlichen Ergebnissen zu kommen. Beiträge, denen eine Beschäftigung mit dem Problem der Übersetzbarkeit geradezu aufgenötigt erscheinen, verleiten schließlich zu der unschönen Vermutung, hier habe ein möglichst umfangreicher Band notfalls mit Gewalt kompiliert werden sollen. Diese Gewalt scheint sich zu Ungunsten der Sorgfalt der Zusammenstellung ausgewirkt zu haben, was angesichts anderer, bemerkenswerter Arbeiten des Herausgebers verwundert. Fazit: Die versammelten Aufsätze sind lesenswert, manche gar hervorragend. Alle sagen mitunter Hochinteressantes - nur leider zu oft Gleiches oder nichts zum Thema.

Titelbild

Übersetzen: Walter Benjamin.
Herausgegeben von Christiaan L. Hart Nibbrig.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
422 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3518120417

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