Auf Ästhetik abgehoben

Wie Husserls "Epoché" Kants Projekt einer transzendentalphilosophischen Ästhetik retten könnte.

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hans-Joachim Pieper vereint in seiner Habilitationsschrift "Geschmacksurteil und ästhetische Einstellung" zwei bemerkenswerte Studien zur Ästhetik. Zunächst geht er davon aus, dass jede ästhetische Theorie, insofern sie allgemeingültig sein soll, in die Tradition von Kants "Kritik der Urtheilskraft" zu stellen ist. Denn eine Theorie des ästhetischen Lustempfindens zu begründen, die unabhängig vom faktischen Zustand der wahrnehmenden Personen ihre Evidenz allein durch reine (und daher eine für jedes Ich anzunehmende) Subjektivität gewinnt, ist genau der Anspruch der Kritik. Dementsprechend bildet eine umfassende Analyse und Interpretation des kantischen Werkes unter Miteinbezug der theoretischen und praktischen Philosophie den ersten Teil des Buches. Darauf aufbauend erläutert Pieper die Probleme, die den Autor zu dem Schluss kommen lassen, "das Projekt einer eigenständigen Disziplin unter dem Titel Transzendentalphilosophische Ästhetik als gescheitert anzusehen." Pieper schließt sich damit den gängigen Interpretationen an, die Kants Ästhetik als zu formal beurteilen: Der Königsberger Philosoph käme dem eigentlichen Lustempfinden, dem wahren Genuss einer ästhetischen Erfahrung nicht adäquat nach, wenn er - kurz gesagt - den Lustgewinn allein durch das Konstrukt einer "Zweckmäßigkeit ohne Zweck" zu beschreiben versucht.

Im zweiten Teil des Buches versucht Pieper (hauptsächlich im Rückgriff auf die Phänomenologie Edmund Husserls und die ästhetischen Arbeiten Roman Ingardens) die kantische Fragestellung neu zu beantworten: Was sind die Bedingungen der Möglichkeit für ein subjektiv-allgemeingültiges Urteil über ästhetische Erfahrungen? Diese zweite Studie beeindruckt durch ihre Gedankendichte und ist die eigentlich interessantere, da sie die philosophisch ausgetretenen Pfade verlässt und mit einem großen Maß an Originalität neue Wege zwischen Ideen anlegt, die so noch nie abgeschritten worden sind. Ferner stellt Pieper an sich selbst die Forderung, "die Eigenart des Ästhetischen im realen Weltzusammenhang zu erhellen [und die] ästhetische Erfahrung als eine menschlich-individuell auch wirklich erfahrbare Erlebnisweise verständlich zu machen." Der Autor sucht also nach den Merkmalen, die eine ästhetische Erfahrung von anderen genuin unterscheidet. Dabei fasst Pieper dieses besondere Erleben als eine Modifikation der natürlichen Erfahrungsweise auf, wie dies traditionell nach Husserl zunächst die phänomenologische Einstellung selbst ist. Das heißt, dass man einen ästhetischen Gegenstand nicht wie die Dinge des alltäglichen Gebrauchs wahrnehmen kann: Die Modifikationen des Bewusstseins, wie z. B. auch das Bild- und Phantasiebewusstsein, konstituieren wesensmäßig verschiedene Gegenstände. Zum Beispiel ist ein Pinsel zunächst zum Malen da, was in ästhetischer Einstellung jedoch vollkommen irrelevant ist. Stattdessen spielen Aspekte wie Bedeutung, Form und Farbe des in diesem Sinne zweckenthobenen Gegenstands eine wichtige Rolle. Ein gewöhnlicher Pinsel könnte so durchaus zum bedeutenden Kunstobjekt werden.

Die ästhetische Einstellung bestimmt Pieper maßgeblich durch die drei Begriffe "Abgehobenheit, Offenheit und Plastizität". Der wichtigste dieser drei Kerngedanken ist die "Abgehobenheit", die auf Husserls Begriff der "Epoché" rekurriert, bei der die Frage nach der tatsächlichen Existenz der Dinge zugunsten der Existenzweise eingeklammert wird. Pieper übernimmt diese Methode der phänomenologischen Reduktion für sein ästhetisches Konzept und kommt zu dem Ergebnis, dass ein Gegenstand schon ästhetisch betrachtet werden muss, um zu beschreiben, wie diese Erfahrung konstituiert ist, die gleichzeitig den ästhetischen Gegenstand als "intentionales Korrelat" überhaupt erst hervorbringt: "Man muss wissen, was zur Kunst zählt und was nicht, um die Überlegungen vom Kunstwerk her auf den Weg bringen zu können." En passant ergibt sich hieraus auch schon eine wichtige Bedingung der Kunst, nämlich dass sie nur unter Bezugnahme auf die Kunstgeschichte (im Regelfall durch das bewusste Brechen bestimmter Traditionen) originell oder mehr noch: überhaupt sein kann. Kunst ist damit als Prozess zu verstehen, der streng ort- und zeitgebunden ist. Denn niemand käme auf die Idee, etwas als Kunst anzusehen, das nicht irgendwie schon auf anerkannte Kunstgegenstände zurückgreift. So resümiert Pieper, dass es in der Kunst nichts absolut Neues geben kann.

Allerdings zählt der Autor nicht nur Kunstwerke, sondern unter anderem auch bestimmte Naturerfahrungen zur Ästhetik. Im Gegensatz zu Kunstobjekten gibt es in diesem Fall weder eine Intention des Schöpfers noch eine Bezugnahme auf etwas anderes, was der Gegenstand selbst nicht ist. Trotzdem kann auch hier eine ästhetische Einstellung eingenommen werden, die ein Naturobjekt in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt, nämlich dann, wenn das jeweilige Um-Zu der Dinge eingeklammert und über das So-Sein reflektiert wird. Dies bezeichnet den "Übergang in einen vom gewohnheitsmäßig hantierenden, praktisch oder theoretisch zielgerichteten In-die-Welt-Hineinleben abgehobenen Erlebniszustand", zu dem sich das erfahrende Subjekt wiederum reflexiv verhalten kann.

Zurück in der etablierten Kunstszene löst sich so auch das Problem der Ready-mades (z. B. Duchamps Werk "Fontaine"). In Anlehnung an Arthur C. Danto kann nämlich gesagt werden, dass eine gewisse "Verklärung" stattfindet, die z. B. die "Fontaine" von einem gewöhnlichen Pissoir unterscheidet, obwohl beide vom Material her identisch sind. Die Abgehobenheit spielt daher die entscheidende Rolle für eine transzendentalphilosophische Ästhetik: Diese Einstellung vermag, dem Autor zufolge, "der Ursprünglichkeit und inspirativen Kraft ästhetischen Naturerlebens ebenso Rechnung zu tragen [...] wie dem sublimsten, raffiniertesten Kunstgenuß, aber auch dem ästhetischen Konsum von Kitsch und Massenware." Allen anderen möglichen Bedingungen für eine ästhetische Erfahrung, z. B. Interpretierbarkeit oder Bildlichkeit eines Werkes, weist Pieper einen gewissen Spielraum und damit nur beschränkte Gültigkeit zu. Die Kunst, so argumentiert der Philosoph weiter, jongliert ständig mit ihren eigenen Möglichkeiten und Perspektiven. Das macht ihre Offenheit und Plastizität aus, die der Autor durch eine Vielzahl von spannenden Problemstellungen illustriert. Dabei bezeichnen "Reflexion und Genuß [...] zwei Pole innerhalb des Rahmens der ästhetischen Erfahrung, zwischen denen das konkrete Erlebnis sich vielgestaltig entfalten kann." So wäre die ästhetische Erfahrung auf einer Ebene oberhalb der Realität der Welt anzusiedeln, auf der sie nichts sein und alles bedeuten kann: Durch ihren Verzicht auf die tatsächliche Existenz ihrer referierenden Bedeutung bleibt sie in der Bewusstseinsweise des "Als-Ob" verhaftet und kann doch ausdrücken, was anders nicht zu enthüllen ist.

Titelbild

Hans Joachim Pieper: Geschmacksurteil und ästhetische Einstellung.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
480 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3826019040

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