Radikale Verwandtschaft

Judith Butlers Antigone-Lektüre

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie sei der "ideale Mensch, der illegal handelt" und "allen Gefahren Trotz bietet", schwärmte Malvida von Meysenburg. Doch nicht nur der mütterlichen Freundin Nietzsches, auch Brecht, Hochhuth und anderen galt sie als Inbegriff widerständigen Handelns gegen eine tyrannische Staatsmacht. Die Rede ist natürlich von Antigone, die neben ihrem Bruder-Vater Ödipus, dem die Psychoanalyse im 20. Jahrhundert zum Aufstieg in das Alltagsbewusstsein der Bildungsbürger verhalf, wohl zu den bekanntest Figuren der antiken Tragödie zählt. Doch nicht nur Autoren und Autorinnen sondern natürlich auch Philosophen wie Hegel und Psychoanalytiker wie Lacan haben sich mit ihr befasst.

Nun hat auch Judith Butler, Shootingstar der Gender-Theorie der 90er Jahre, Sophokles' Antigone für sich entdeckt und ihr unter dem Titel "Antigones Verlangen" ein Buch gewidmet. Antigone könne, so Butler mit Anklang an die gängigen Interpretationen der Antigone als Widerständlerin, zur "Gegenfigur" eines "Trends" unter heutigen Feministinnen dienen, die sich von staatlicher Seite Unterstützung bei der "Umsetzung feministischer politischer Anliegen" erhoffen.

Butlers Buch gliedert sich in drei Abschnitte, deren mittlerer sich weniger Antigone selbst zuwendet als ihren Interpreten Hegel und Lacan. Nun überzeugen sowohl Butlers Hegel-, als auch ihre weit wichtiger Lacan-Kritik, auch wenn Butler hier wohl einen Umweg unternimmt, um zu ihrem eigentlichen Anliegen zu gelangen: der im letzten Teil erfolgenden Kritik an der herkömmlichen Kleinfamilie. Gelegentlich drängt sich gar der Eindruck auf, ihre Auseinandersetzung mit Antigone diene überhaupt nur als Vehikel zu diesem Ziel, das auch ohne den Rückgriff auf die Antike zu erreichen wäre.

Doch dessen ungeachtet - und auch abgesehen davon, dass Butler (an einer für ihre Argumentation allerdings nicht so bedeutsamen Stelle) unzulässigerweise von der zeitlichen Abfolge der Abfassung der Sophokleischen Stücke "Antigone", König Ödipus" und "Ödipus auf Kolonos" auf die zeitlichen Wirkungszusammenhänge innerhalb der Tragödien schließt - erweist sich ihre Interpretation als geistreich und weitgehend innovativ. Vehement und überzeugend bestreitet sie die nicht unübliche, auch von Hegel und Lacan vertretene Lesart Antigones als Vertreterin des Vorrechts verwandtschaftlicher Bindung gegenüber den Verpflichtungen, die die Staatsmacht auferlegt. Antigone, hält Butler entgegen, sei derart in ein "inzestuöses Erbe" verstrickt, dass sie "kaum für die normativen Prinzipien der Verwandtschaft stehen" könne. Ihre verwandtschaftlichen Beziehungen seien "unwiderruflich vieldeutig": Ihr Vater Ödipus ist zugleich ihr Bruder und ihre Brüder sind ihre Neffen, Söhne ihres Bruder-Vaters. Zudem, so Butler weiter, ist Verwandtschaft keine "Situation", in der Antigone sich einfach befindet, sondern ein "Bündel von Praktiken", die sie selbst mit gestaltet, ein Geflecht von Beziehungen, die "durch die Praxis ihrer Wiederholung" immer wieder "neu eingesetzt" werden. So findet die inzestuöse Beziehung ihrer Eltern einen Wiederhall in Antigones inzestuösem Begehren gegenüber ihrem Bruder-Neffen Polyneikes. Die sexuelle Konnotation ihres Verlangens wird deutlich, wenn Antigone zu Ismene sagt, es sei schön für Polyneikes zu sterben, um "geliebt bei ihm zu ruhn, den ich liebe".

Das Tabu und die "bedrohliche Darstellung des Inzest" zeichnen die Verwandtschaftslinien vor, in denen der Inzest als "eigenste Möglichkeit" angelegt ist, womit "die 'Abweichung' genau ins Herz der Norm selbst" gepflanzt wird. Antigone repräsentiert demzufolge nicht Verwandtschaft in ihrer 'idealen' Form, noch deren "radikales Außen", sondern ihre "Deformation und Verschiebung." Doch folgt aus der Annahme, dass man sich nicht die engsten Familienangehörigen zu Liebhabern, Geliebten oder Ehepartnern nehmen könne, nicht notwendig, dass die "Familienbande, die möglich sind, irgendeine bestimmte Form annehmen" müssten. Sophokles' Protagonistin bietet vielmehr "Gelegenheit für die Lektüre einer strukturell beschränkten Verwandtschaftsauffassung in Begriffen ihrer sozialen Iterabilität".

Neben den inzestuösen Praktiken im verwandtschaftlichen Beziehungsgeflecht, an dem Antigone mitstrickt, gibt es noch aus einem zweiten Grund, aus dem sie "schwerlich für die Heiligkeit der Verwandtschaftsbindung" stehen kann: zwar ist sie bereit für ihren Bruder gegen das Gesetz zu verstoßen, jedoch nicht für andere Verwandte. Mit der Bestattung ihres Bruders vollzieht Antigone demzufolge eine konkrete Handlung "ohne Allgemeingültigkeit und Übertragbarkeit". Beide Gründe verschränkt Butler zu der Auffassung, dass eigentlich Antigones Vater-Bruder Ödipus gemeint ist, wenn sie ihren Bruder-Neffen Polyneikes bestattet. Antigones Begehren ziele also nicht nur und vor allem nicht eindeutig auf den Bruder-Neffen Polyneikes, sondern zudem und womöglich primär auf den Vater-Bruder Ödipus.

In einem letzten Argumentationsschritt zeigt Butler, dass Sophokles' Antigone kein 'weibliches' Verhalten an den Tag legt, sondern etwa während der Auseinandersetzung mit Kreon in der "Form einer gewissen männlichen Souveränität" handelt, die verlangt, dass "ihr Anderes gleichermaßen weiblich wie unterlegen ist". Paradoxerweise gewinnt Antigone zwar "Mannhaftigkeit" indem sie das Männliche besiegt, doch überwindet sie es nur indem sie es "idealisiert". Daher und aufgrund ihres auf Polyneikes respektive Ödipus gerichteten Verlangens verdeutlicht sich an Antigone zwar "emblematisch ein gewisses heterosexuelles Verhängnis", doch ist sie "nicht eigentlich eine lesbische Heldin". Denn zweifellos, so Butler, gelangt sie zu keiner nicht-heterosexuellen Sexualität. Dennoch scheint Antigone die Heterosexualität "auszusetzen", indem sie sich weigert, ihr Leben für Haimon zu retten und ihr Glück als Ehefrau und Mutter zu suchen. Auch insofern kann sie nicht für das Ideal verwandtschaftlicher Beziehungen stehen.

Wenn Verwandtschaft die Voraussetzung des Menschlichen sei, so Butlers 'familienpolitisches' Resümee von hochaktueller Gültigkeit, dann könnten "ganz andere Formen" verwandtschaftlicher Beziehungen möglich werden, "bei denen die Zustimmung weniger im Vordergrund" stehe als vielmehr die "soziale Organisation der Bedürfnisse". Doch überbietet Butler diese visionäre Form "radikaler Verwandtschaft" noch, indem sie ein "neues Feld des Menschlichen" anvisiert, das durch die "politische Katachrese" erreichbar ist und sich ereignen kann, wenn die Geschlechterzugehörigkeit "verschoben" wird und die Verwandtschaft "an ihren eigenen begründenden Gesetzen" zerbricht, womit sich die "soziale Form" einer "abweichenden noch nie dagewesenen Zukunft" am utopischen Horizont abzeichnet.

Titelbild

Judith Butler: Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod. Mit einem Nachwort von Bettine Menke.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
156 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3518121871

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