Die Banalität des Blöden - Oder: Shakespeare ist nur ein Wort

Eine fragwürdige Textsammlung zum "Big Brother"-Phänomen

Von Joachim LandkammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Landkammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kurz bevor im sich immer rasender drehenden Medienkarusell bald tatsächlich niemand mehr weiß, wer einst Sabrina, Jürgen und Zlatko waren, kurz bevor das mit viel Markt- und Protestgeschrei als Fernseh-Event 2000 ausgerufene Big-Brother-Format im Normalitätsnebel der erfolglosen Nachfolgestaffeln und Format-Imitate verschwindet, mag es angebracht erscheinen, noch einmal reflektierend Rückschau zu halten auf das Ausgangsphänomen und die es begleitenden Kontroversen. Auch (und gerade) wenn noch lange nicht abzusehen ist, wie herrlich weit wir es noch bringen werden mit der "Zlatkoisierung" "Verfeldbuschung" und "De-Privatisierung" der Fernsehunterhaltung, könnte ein medientheoretischer Blick zurück auf die Ursprünge des Big-Brother-Phänomens zumindest versuchen, die Frage zu stellen, ob damals, im Frühjahr 2000, ein Rubikon der Ent-Intellektualisierung und Dehumanisierung überschritten wurde oder ob lediglich im Rahmen des blindwütigen Baus an unserem babylonischen Medienturm ein kaum weiter bemerkenswerter Ziegelstein in die chaotische Konstruktion eingepasst wurde.

Die Lektüre der "Bilanz", die die vorliegende Textsammlung ziehen will, lässt den Leser nach 380 Seiten mit durchaus ambivalenten Einsichten bezüglich dieser Frage und insgesamt eher erschöpft und unbefriedigt zurück. Das Buch stellt ein heterogenes Ensemble von Texten zusammen, die von Vertretern verschiedener Fachrichtungen und Institutionen stammen und demgemäß unterschiedlichste Blickwinkel verfolgen - was nicht hindert, dass es trotzdem an vielen Stellen zu lästigen Redundanzen kommt.

Wenn man zunächst einmal die Summe der hier vertretenen Mehrheits-Meinung ziehen darf, kommt man auf den abwiegelnden Grundtenor, den die Distanz der sogenannten "wissenschaftlichen Denkweise" notwendig zu fordern scheint: alles nicht so neu und daher alles halb so schlimm. Aber natürlich ist es ein Leichtes, auf die Vorläufer-Symptome der Container-Show in den Tendenzen der Privatsender ("1984", das Jahr der Legalisierung des "dualen" TV-Systems, war insofern wirklich die Geburtsstunde von "Big Brother") zum Reality-TV, dem Soft-Porno und zum Intimitätsausverkauf in den täglichen Talkshows hinzuweisen. Trotzdem muss die Frage erlaubt sein, ob das Privatfernsehen, das hier in einer neuen Formatsynthese zu sich selber kommt, damit nicht Grenzen überschritten hat, die nicht nur eine neue medienwissenschaftliche Kategorisierung und Analyse, sondern auch ganz besondere medienethische Aufmerksamkeit, und vielleicht sogar medienrechtliche Intervention fordern. In der berechtigten Sorge, dem Sender und dem Produzenten auf den Leim ihrer cleveren Marketing-Strategie zu gehen, die naturgemäß das Unerhörte und Neue von Big Brother abfeiert, begeht man den entgegengesetzten Fehler und unterschätzt das "Revolutionäre" und Dammbruchartige, die schiefe Ebene, die mit BB betreten wurde.

Insofern darf man die "warnenden" Stimmen, die sich ja im Vorfeld des Medien-Events v. a. auch aus der Politik (von Otto Schily bis Kurt Beck) zu Wort gemeldet hatten, zwar vielleicht "hilflos" und "moralistisch", aber deswegen noch lange nicht "heuchlerisch" nennen. Sie wären eher als Ausdruck eines legitimen, aber nicht einfach kommunizier- und formulierbaren Unbehagens zu werten, das man als halbwegs intelligenter Zeitgenosse angesichts eines solchen Sendeformats ja wohl empfinden muss. Da hilft es wenig, wenn man sich - wie gesagt - asketisch-ausschließlich aufs Deskriptive verlegt, auf die medienwissenschaftlich differenzierte Aufarbeitung, die beschreibt, aus welchen bereits bestehenden Komponenten das "Hybridformat" BB zusammengebaut ist, welche Regeln das Spiel und welche Logiken die Inszenierung bestimmen (und inwiefern damit bestehende soziale Logiken abgebildet werden) und wie man die Sache nun geeigneterweise klassifizieren und rubrizieren muss ("performatives Realitätsfernsehen", "verhaltensorientierte Show", "confrontainment"); oder wenn man trotzig den affirmativen Tiger reitet und (wie z.B. Hans J. Kleinsteuber oder Manfred Behr/ Silvia Kaiser in vorliegendem Band) der BB-Show lauter positive Aspekte abgewinnt (indem man u. a. von einer durch die medientechnische Isolation der BB-TeilnehmerInnen gelungenen "Anti-Medien-Inszenierung" spricht) und meint, das "innovative Format" komme den Anforderungen einer "Populärkultur" entgegen und unterlaufe das "Bildungsdogma" (als ob es heute noch des televisionären Nachweises bedurft hätte, dass man "groß rauskommen" kann, auch wenn man mit dem Wort "Shakespeare" nichts anzufangen weiß).

Es braucht, so will es scheinen, größeren Mut, gegen die Banalität banale Einsichten und Einwände geltend zu machen: etwa indem man, wie Carsten Brosda, auf die Irrationalität der "emotionalisierenden Kult-Inszenierungen" und der Verwischung der Grenzen von Realität und Fiktion hinweist, oder wenn der "Medienethiker" Wolfgang Wunden sich denn doch zu der Vermutung durchringt, dass solche Sendung langfristig zu einem "Wertschätzungsverlust der Intimität" führen könnten.

Den verwertbarsten Informationsgehalt des vorliegenden Bandes bieten noch Teil IV, der einige empirische Forschungen zum Konsumenten- und Rezeptionsverhalten bereithält sowie Teil V ("Standpunkte"), der offizielle statements einiger Verantwortlicher aus der Politik und den Medien zusammenträgt; beides, sowohl die harten sozialwissenschaftlichen "Fakten" als auch die (wie auch immer institutionell oder gar rituell vorgeprägten) Standpunkte wird man auch in der zukünftigen Diskussion berücksichtigen müssen.

Was den (größeren) Rest anbelangt, so kann man den Sammelband nur als Ergänzung zu anderen und gehaltvolleren Publikationen zum Thema empfehlen; die Veröffentlichung erweist sich im übrigen auch formal als vorreife Schnellschussproduktion, der eine genauere redaktionelle Überarbeitung gut getan hätte (rekurrierende Typographie-Fehler, unterschiedliche Rechtsschreibsysteme, nicht übereinstimmende bzw. fehlende Literaturverzeichnisse usw. - kein Sach- und Namensverzeichnis und keine allgemeine Bibliographie).

P.S.: In Frankfurt hat Bernhard Martin im Rahmen der Ausstellung "Neue Welt" eine sogenannte "single disco" installiert: in einer vollständig und "lebensecht" ausgestatteten Disko darf jeweils eine einzelne Person, ganz allein und gänzlich unbeobachtet, eben - tanzen. Ist es schon soweit, dass die Kunst, indem sie das ursprünglich "Öffentliche" re-privatisiert, kompensatorisch das zurückzugewinnen muss, was wir durch die mediale Veröffentlichung des Privaten an ursprünglicher Intimität im Begriff sind zu verlieren?

Titelbild

Frank Weber: Big Brother. Inszenierte Banalität zur Prime Time.
Mit Beiträgen von Kurt Beck, Joan Kristin Bleicher, Klaus Bresser, Werner Frotscher, Johanna Haberer, Kurt Johnen, Hans J. Kleinsteuber, Roland Koch, Hans-Dieter Kübler, Lothar Laux, Lothar Mikos, Hans Paukens, Wolf-Dieter Ring, Helmut Schanze u.a.
LIT Verlag, Münster 2000.
383 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 382585096X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch