Phänomenologische Zwischenrufe im Prozess der Aufklärung

Bernhard Waldenfels' "Verfremdung der Moderne"

Von Sven AchelpohlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sven Achelpohl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den kleineren Schriften des Philosophen Bernhard Waldenfels gehört der jüngst im Wallstein Verlag erschienene Titel "Verfremdung der Moderne", der im Untertitel die Selbstbeschreibung "Phänomenologische Grenzgänge" führt und auf einer Vortragsreihe des Essener Kulturwissenschaftlichen Instituts basiert. Der Autor dieser Studie gehört zweifellos zum engen Kreis der Phänomenologen in Deutschland, die Edmund Husserls philosophisches Erbe mit einem starken Gegenwartsbezug verbinden. Der Schlachtruf "Zu den Sachen selbst", den die frühe deutsche Phänomenologie im Munde führte, ist mithin für die neue, international ausgerichtete Phänomenologie nur noch peripher bedeutsam. Dass in den letzten beiden Dekaden die Phänomenologie nicht nur in ihren historischen Konturen sichtbar geworden ist, verdankt sie auch Waldenfels. Aus den unterschiedlichsten Denkfiguren und vermittels des prägenden Einflusses französischer Phänomenologen hat er ein eigenständiges philosophisches Idiom entworfen, das auch der vorgeblich unpolitischen Seite der Phänomenologie neue, schärfere Konturen verleihen konnte. Einen wichtigen Schwerpunkt seiner Forschung bildet seit Jahren die Genealogie einer Ethik, die aus dem Antworten auf fremde Ansprüche erwächst und allen normativen Regelungen sowie pragmatischen Nutzerwägungen vorausgeht. Daneben hat sich Waldenfels seit Jahren durch die Mitherausgabe der Schriftenreihe "Übergänge" - Werke von Merleau-Ponty und Ricœur erschienen dort - um den Austausch zwischen Phänomenologen deutscher und französischer Provenienz verdient gemacht.

"Verfremdung der Moderne" - das ist zunächst ein Gegenentwurf zu Versuchen, die neuzeitliche Vernunft als Hegemonialmacht zu etablieren, die fremde Ansprüche und daraus erwachsende Konflikte als dysfunktionale Phänomene auffasst und diese mit Diskursregeln zu domestizieren und zu entschärfen trachtet. Nach Waldenfels können jedoch in der brüchig gewordenen Moderne gerade diese Konflikte nicht mehr ausgeblendet werden. Der Bestand der Moderne kann durch die radikale Kontingenz unserer Ordnung, die im Husserlschen Sinne als gestiftete Ordnung verstanden werden muss, in Frage gestellt werden. Mithin ist das "Ereignis der Ordnungsstiftung nicht Teil der gestifteten Ordnung". Durch ein vorgängiges Stiftungsereignis haftet nicht nur politischen Ordnungen ein fortwährend mitwandernder Schatten an, sondern auch der abendländischen Vernunft insgesamt. Diese Verschattung durch einen präreflexiven blinden Fleck begründet Waldenfels Aussage: "Das Faktum der Vernunft selbst ist nicht vernünftig". Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns ist somit für unseren Autor ein limitierendes und exklusives Unterfangen, das aus der Vernunft eine forensische und normativ verkürzte Vernunft macht, die im Normalismus eines "The norm is the message" versandet. Gerade in der Politik zeigt sich deutlich, wie stark sich Handlungsspielräume eingrenzen lassen, wenn political correctness und Moralismus zu Maßstäben des Denkens werden. Dieses Denken bleibt lediglich reaktiv. Waldenfels hingegen intendiert kein nihilistisches Aufbegehren gegen die "Tyrannei des Logos" (Nietzsche), sein Zielhorizont verweist vielmehr auf eine "Umformung" der Subjektivitäts- und Rationalitätskonzepte der Moderne. Insbesondere durch diese Perspektivität setzt sich der Autor auch von den restaurativen Vorgehensweisen der jüngeren und nicht mehr ganz so kritischen Theorie à la Habermas und Honneth ab. Am Rande sei noch erwähnt, dass auch Derridas oft missverstandene Kritik am "Logozentrismus" nach Waldenfels' kongenialer Lesart nicht den Logos selbst zerstört, sondern lediglich die Zentrierung in einem Logos. Dies führte bereits in Waldenfels' Studie "Der Stachel des Fremden" zu ersten Skizzierungen einer "Inter- und Transdiskursivität, die dazu führt, daß die Grenzen der Diskurse sich verschieben, sich aber nicht endlos hinausschieben lassen".

Die Moderne, die Subjektivität mit Rationalität kurzschließt und damit ein "penser du dedans" bleibt, krankt nach Waldenfels an ihrer "Fremdvergessenheit". Insbesondere die aktuellen Spielarten des Kommunitarismus und Pragmatismus sind damit infiziert. Eine Erweiterung oder sogar eine Sprengung des Möglichkeitsspielraumes bietet hingegen nur eine Öffnung auf das radikal Fremde hin, das nie Teil des Eigenen und des Ganzen werden wird, sich aber dennoch in einer "Zugänglichkeit des original Unzugänglichen" (Husserl) darbietet. Dem traumatischen Einbruch des unheimlich Fremden in das Eigene steht in der Eigenheitssphäre ein bereits durch und durch von Fremdheit gezeichnetes Selbst gegenüber, welches sich als Selbst nicht aus sich selbst konstituieren konnte. Gerade die zahlreichen Aspekte des Selbstentzugs im Selbstbezug sind mit der leiborientierten Phänomenologie sehr präzise zu fassen und bilden folglich ein Leitmotiv, das in allen Studien von Bernhard Waldenfels Gegenstand unabschließbaren Fragens ist. Lichtenbergs schon fast heideggersches "es denkt" fügt sich mithin gut in diese Linie und lenkt den Blick auf die Grenzen und Gefahren menschlicher Allmachtsphantasien. Doch wie kann nun der Graben zwischen Eigenem und Fremden geschlossen werden? Dieser Hiatus wird von Waldenfels seit seiner Studie "Ordnung im Zwielicht" aus dem Jahre 1987 nicht qua Synthesis geschlossen - dies wäre eine Verknüpfung, die ein Drittes bereits voraussetzen würde -, sondern durch eine offene Anknüpfung. Ein Beispiel dafür wäre der Wechselblick, der sich zu einer "Dramatik des Blicks" steigert. Der Blickkampf, der Über- und Unterordnung anstrebt, ist jedoch ein unglücklicher Versuch, dieses Schwellengeschehen stillzustellen. Darin kündigt sich bereits an, dass unsere Frage nach der Aufhebung des Hiatus falsch gestellt ist und Waldenfels vielmehr eine Definalisierung ansteuert, die das Fremde weder ein- noch ausgrenzt. Der Fremdbezug wird damit zu einem Paradox: im tatsächlich stattfindenden Bezug auf das Fremde entzieht sich das Fremde. Somit ist Waldenfels' fragendes Denken immer auch ein auf fremde Ansprüche antwortendes Denken. Als Brückenschlag und Erweiterung der Theorien von Cornelius Castoriadis erklärt diese Responsivität auch, wie Gesellschaften sich als responsive Imagination zugleich konstituieren und wandeln können. Ohne die Herausforderungen, die vom Fremden ausgehen, würden wir uns jedoch einer Normalgesellschaft nähern, "die nur noch den von Nietzsche beschworenen 'Normalmenschen' hervorbringt. Demgegenüber ist Fremdes, das sich den vertrauten Ordnungen entzieht, geeignet, uns wieder und wieder aus dem institutionellen Schlummer zu wecken". Die neue Ordnung, die aus dieser Unterbrechung des Schlummers erwächst, ist aber keine umfassendere Ordnung, sondern eine, die die alten Maßstäbe überschreitet, ohne diese zu überwinden. Damit begründet Waldenfels ein Ethos, das Grenzachtung mit Grenzverletzungen verbindet, und ermöglicht ein Reden und Tun, "das auf fremde Ansprüche antwortend sich selbst überrascht". Fraglos genügt damit unser Autor einem Anspruch, den er an anderer Stelle den französischen Phänomenologen von Merleau-Ponty bis hin zu Derrida zugestand: "Zum Glück taugt das Denken dieser Autoren nicht zu einem System".

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Bernhard Waldenfels: Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge.
Wallstein Verlag, Göttingen 2001.
162 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3892444595

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