Geisterzug in den Tod

Jürg Altweggs Beitrag zu einem unverarbeitetem Kapitel der Kriegsgeschichte

Von Tobias TemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Temming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ohne Wasser, ohne Nahrung, ohne Toiletten - ein wenig Stroh auf dem Boden ist schon der einzige Luxus. Bei klirrender Kälte oder bei glühender Hitze stundenlang zu warten; Wehrmachts- und Materialzüge haben Vorfahrt. Die meisten Insassen sind politische Gefangene. Mitglieder der Résistance - bestehend aus halbwüchsigen Juden, republikanischen Spanienkämpfern, italienischen und französischen Antifaschisten. Der Platz ist so eng, dass man nur stehen oder abwechselnd liegen kann. Nur durch eine winzige Luke im Dach läßt sich der Himmel erkennen. Wie lange es noch so gehen soll, kann man nicht sagen - niemand weiß wohin der Transport führt. Sicher ist nur: die ersten werden schon bald zusammenbrechen.

Nach der Landung der Alliierten in Frankreich am 6. Juni 1944 beeilte sich die Vichy-Regierung, sich auch noch der letzten Gefangenenlager und Internierten auf ihrem Gebiet zu entledigen. Mitten in der Befreiungsschlacht Ende Juni wurden 600 Menschen in völlig überfüllte Waggons gepfercht. Die meisten anderen waren schon vorher in die osteuropäischen Gebiete deportiert worden. Eines der größten Lager, Le Vernet d´Ariége, wird am 30. Juni aufgelöst; die Gefangenen werden mit dem Zug deportiert. In Toulouse kommen zusätzliche 300 politische Gefangene aus einem Gestapo Gefängnis hinzu; noch weitere in anderen Städten. Fast alle von ihnen gehörten zum intellektuellen Widerstand oder waren die aktive Elite der Résistance. Zusammengewürfelt aus verschiedenen Ländern kämpften sie gegen Vichy und die Deutschen. Nun waren sie gemeinsam Deportierte; Totgeweihte - die nur noch um ihr eigenes Leben zu kämpfen hatten. Eingepfercht in Viehwagen beginnt nun eine schreckliche Odyssee des Leidens.

Zwar langsam und mit vielen Unterbrechungen, aber dennoch stetig setzt der "Geisterzug" unter dem Kommando von Oberleutnant Schuster seinen Weg mitten in den Wirren der Befreiungsschlacht fort. Aufgerissene Schienen und zerschossene Lokomotiven verzögern immer wieder die Weiterfahrt. Mit dem Vorrücken der amerikanischen Truppen werden zugleich die Aktionen des französischen Widerstands immer aggressiver und häufiger. Aus Angst vor Übergriffen der Maquisards werden die Deutschen nervös, schießen auf alles, was sich bewegt, inmitten einer zerbombten Mondlandschaft, durch die schon seit Wochen kein Zug mehr gefahren ist. Bei der Ankunft in Dachau Ende August sind schon 350 der 900 Deportierten tot. Alle Hoffnungen auf eine rechtzeitige Befreiung durch eine Aktion des Widerstands oder durch ein Vorrücken der alliierten Truppen wurden enttäuscht.

Die Überlebenden der Résistance müssen sich einmal mehr mit einem bisher unbewältigtem Kapitel ihrer Geschichte auseinandersetzten. Die insgesamt 3000 Deportationszüge entgleisen nicht: Bis zur Befreiung durch die alliierten Truppen werden 76.000 Menschen, die meisten davon Juden, deportiert. Heute kritisieren Opfer wie Claude Levy, man wäre besser beraten gewesen, "die Deportationszüge zum Entgleisen zu bringen", statt "den abziehenden Deutschen in den Rücken zu schießen." So lautet auch vielerorts der Vorwurf gegenüber der Résistance und dem SNCF, verklärt durch Filme wie "La Bataille du Rail" ("Die Schienenschlacht"): Die Résistance-Organisationen kontrollierten die Zeugenaussagen und überwachten das Drehbuch zum Film.

Die Züge nach Dachau wurden von französischen Bahnbeamten zusammengestellt, begleitet und geführt. Noch 1994 waren Deportationszüge für die SNCF-Zeitschrift "La vie du rail" kein Thema. Vichy erklärte sich mit der Auslieferung von zehntausend Juden aus der nichtbesetzten Zone einverstanden. Frankreich war das einzige Land, das auf Regierungsebene mit der deutschen Besatzungsmacht kooperierte. Dies alles sind Daten und Fakten, die auf eine unreflektierte und unbewältigte Auseinandersetzung des SNCF und der Résistance mit ihrer tatsächlichen Geschichte hindeuten und noch immer Gegenstand von hochbrisanten Diskussionen ist.

Durch die Aufbereitung der Biographien vieler Beteiligter spricht das Buch nicht nur über anonyme Figuren, nicht nur über Zahlen, sondern über Individuen. Altwegg rekonstruiert die Stationen des "Train Fantome" sowie den deutschen Fanatismus bis zum Untergang.

Nur die allerwenigsten Deportierten überlebten den Transport und die Konzentrationslager. Und dies meist nur durch bewundernswerte Akte der Freundschaft, Solidarität und christlicher Nächstenliebe heute vergessener Menschen wie Ginette Vincent Baudy. Unter Lebensgefahr wird Menschen geholfen - allein weil sie "Teil der Schöpfung Gottes sind".

Jürg Altwegg hat viele zeitgenössische Quellen recherchiert. Weit über hundert Zeugenaussagen fließen in seinen Text mit ein. Durch einen kaum merklichen Wechsel zwischen Erzählung und autobiographischer Rede, die durch Interviews gewonnen wird, erreicht Jürg Altwegg ein großes Maß an Authentizität. Viel zu selten liest sich ein Dokument der Zeitgeschichte wie ein Roman. Spannung muss nicht aufgebaut werden, sie ist schon durch die Abbildung der Wirklichkeit präsent.

Titelbild

Jürg Altwegg: Geisterzug in den Tod. Unbekanntes Kapitel der deutsch-franz.Geschichte 1944.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000.
200 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3498000578

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