"Magische" Moderne

Robert Stockhammers Studie über die Wiederkehr der Magie und die Literatur (1880-1945)

Von Dietmar TillRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Till

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Robert Stockhammer hat mit seinem Buch "Zaubertexte. Die Wiederkehr der Magie und die Literatur" (ursprünglich eine Berliner Habilitationsschrift aus dem Jahre 1997) den Versuch einer "anderen" Literaturgeschichte der "klassischen Moderne" vorgelegt. Stockhammers Buch unterscheidet sich von anderen literarhistorischen Arbeiten, weil es sich mit Leidenschaft jenen Diskursen zuwendet, die nach landläufigem Verständnis in der "Moderne" keinen Platz haben: Magie, Spiritismus, Hypnose, Okkultismus, Alchemie, Parapsychologie und andere "Wissenschaften", die heute als Schwundformen in den randständigen Bereich der Esoterik oder anderer weltanschaulicher Strömungen abgesunken sind. Für die Zeit um 1900 dagegen konstatiert er eine "Wiederkehr der Magie" im Schnittpunkt "von Psychiatrie und Hexerei, von Kommunikationsmedium und Spiritismus, von Psychotechnik und Schamanismus, von Atomenergie und Alchemie, von Maschine und kabbalistischer Formel, von modernen Diktatoren und Stammeshäuptlingen." In einer durch die Naturwissenschaften und den Positivismus gleichsam 'entzauberten' Welt kehren die magische Praktiken mit Vehemenz wieder: In Form der Hypnose etwa, die aufgrund der Arbeiten Charcots 1882 von der Pariser Académie des Sciences in den Rang einer 'ordentlichen' Wissenschaft erhoben wird. Die Literatur, so die These des Verfassers, ist in diesen Prozess der Wissenszirkulation und -transformation integral eingebunden: nicht nur als "Motivreservoir" auf der Inhalts-Ebene des "Ausgesagten" (der énoncé), sondern auch auf einer spezifisch literarischen des "Aussagens" (der énonciation). Fraglich bleibt allerdings, ob Stockhammer diese These auch an den Texten selbst plausibilisieren kann, zumal das Problem der "Magie" als "Literatur" meist nur anhand poetologischer Äußerungen belegt wird, während die (wenigen) Textanalysen vielfach auf der inhaltlichen Ebene bleiben.

Stockhammers Buch bietet mit seinem kulturwissenschaftlichen Ansatz einer 'Poetik des Wissens' also weit mehr als eine traditionelle Stoff- und Motivgeschichte. Indem die Literatur die Magie "beerbt" wird sie selbst magisch; der literaturwissenschaftliche Begriff der "Sprachmagie" (Hugo Friedrich u. a.) wird über Roman Jakobson und Brontislaw Malinowski auf seine ethnologischen Wurzeln zurückgeführt: Literatur und "Magie der Sprachen" gehörten von Anbeginn zusammen, was sich nicht zuletzt am ebenfalls "magischen" Begriff des "Charisma" (Max Weber) zeigt, dem das letzte Kapitel des Buches (mit interessanten Ausführungen zum magischen Charisma des Rhetors Hitler) gewidmet ist.

Wie Stockhammer plausibel darlegt, finden sich sprachmagische Überlegungen nicht nur bei Mallarmé, in den "dekadenten" Romanen Huysmanns' oder im "Dracula"-Roman Bram Stokers von 1897, sondern auch bei deutschen Dichtern, von denen man es gar nicht vermutet hätte: Etwa bei Thomas Mann, der eine spiritistische Sitzung bei Albert Freiherr von Schrenck-Notzing besucht, die sich nicht nur in einigen Essays niederschlägt, sondern grundsätzliche Konsequenzen auch für die Interpretation des "Zauberberg" hat. Oder in Hugo von Hofmannsthals Romanfragment "Andreas", wo ebenfalls "Positionen in einem Zirkulationsfeld magischer Potentiale" nachzuweisen sind. Die surrealistische Vorstellung einer 'écriture automatique' weist zwar den Spiritismus-Verdacht nachdrücklich von sich, bei André Breton wird das "Beiwort 'magisch'" dennoch "zur Beschreibung des unbewußten oder allbewußten Diktates eingesetzt". Rilke dagegen bleibt seltsam blass.

Die Arbeit argumentiert in einem extrem interdisziplinären Umfeld, das von der Psychoanalyse Freuds und der Kulturphilosophie Cassirers über Benjamin und die Kabbala-Forschungen Scholems bis zu den zeitgenössischen Debatten um Astrologie und Astronomie in den 1930er Jahren reicht. Sie arbeitet diese heterogenen Diskurse mit der nötigen Akribie wissenschaftsgeschichtlich anhand einer Fülle vielfach unbekannten Materials auf und hebt dabei zudem die wichtigen mediengeschichtlichen Implikationen hervor. Das alles wird in einem hochdifferenzierten systematischen Rahmen eingepasst, bei dem der/die Leser/in allerdings öfter einmal den Überblick verliert. Ein leichte Lektüre ist Stockhammers Arbeit deshalb nicht, aber eine sicherlich lohnende.

Titelbild

Robert Stockhammer: Zaubertexte. Die Wiederkehr der Magie und die Literatur 1880 - 1945.
Akademie Verlag, Berlin 2000.
304 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3050034602

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