Das Leben auf der Straße

Bernd Schulz empfiehlt sein "Lexikon der Road Movies" als Bettlektüre im Motel

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neil Young spielt, streichelt, kratzt, malträtiert seine Gitarre und ersetzt dadurch den Inhalt einer durchschnittlichen Dorfbibliothek, während in Schwarzweiß Johnny Depp auf seine letzte Reise geht, als Dead man, als sterbender Dichter William Blake; noch nie sahen Birken schöner und majestätischer aus, grandios photographiert von Robby Müller, und wir alle sind Passagiere dieser Reise in den Westen, und wir selbst sind es, die mit Adlerfedern beschmückt und der Sonne in den Augen das schöne, neue Amerika, das Amerika der Reservatsindianer und Viehherdentreiber, verlassen und Neil Young intoniert den toten Mann auf der Elektrischen und Greil Marcus schreibt: "Der rote Faden der Ironie zieht sich durch alle Werke Jim Jarmuschs; in diesem Film gibt es keinen Funken davon."

Zweitausend und ein Querverweis, das macht ein Lexikon aus, welches man in diesem Falle vielleicht als eine "Road map" nützen sollte: Wo geht es nach Bisbee? Wo zum Mardi Gras nach New Orleans? Wo geht es nach Memphis/Tennessee? Wo nach Tupelo? Wie komme ich auf dem schnellsten Weg - die Cops sind schließlich hinter mir her - auf den Highway nach Mexiko? Meistens ist jedoch der Weg das Ziel. Und es muß nicht immer so enden wie in "Vanishing point", frontal gegen den Schaufellader, der blinde DJ legt zum letzten Mal eine Soulplatte auf. Ein "definitives Road-movie", schreibt Schulze und hat definitiv recht. Quincy Jones, Schweiß in Leinenhemden, grobkörniges Filmmaterial und Gene Hackman isst keinen Spinat, nicht nur während er in "French Connection" Teil der vielleicht besten Verfolgungsjagd der Filmgeschichte ist. Und immer wieder: "Getaway", und zwischendurch eine Bank ausrauben, an der Tankstelle noch einen Schokoriegel kaufen - "Sugerland express". Leave it or

take it; hinter Road Movies verbirgt sich eine Weltanschauung, und nicht immer muss das Automobil eine Hauptrolle spielen. Siehe: "Dead man", doch dieser Streifen kommt in Schulzes Lexikon leider nicht vor.

Schulz steht mit beiden Beinen fest in den Sechzigern, "Easy rider" ist sein Ausgangspunkt und seine Bibel (wahrscheinlich auch zu recht), Querverweise zu den Bands "Steppenwolf" und "Canned Heat" folgen. Doch wen interessiert es, zu erfahren, dass der Steppenwolf-Bandleader John Kay am 12. April 1944 in Tilsit/Ostpreußen zur Welt kam? Und was würde Hermann Hesse dazu sagen? Ein besonders grotesker Auswuchs von Schulzes seltsam wucherndem Lexikon ist die alphabetische Auflistung aller tatsächlichen Rennwagenfahrer, also der Stuntmänner, im Klassiker "The 24 hours of Le Mans". Ist das eine Verbeugung vor den wahren Helden des Filmgeschäfts, speziell des Road-Movies? Oder wollte der Autor damit seine Recherchekompetenz verewigen? Oder doch bloß die Seiten füllen? Oder alles zusammen? Doch da taucht dann zwischen den Rennfahrern Herbert Linge und John Miles alphabetisch einsortiert auch Steve McQueen himself auf, der nicht nur in "Le Mans", sondern auch in "Bullit" selbst hinterm Steuer saß. Vielleicht war diese Auflistung ein um die Ecke gedachter Versuch, den einzigartigen Steve McQueen zu würdigen? McQueen bekommt im Lexikon auch einen eigenen, ehrenden Beitrag. Mit biographischen Verweisen rückt Schulze weitere wichtige Schauspieler des Genres in das Zentrum, doch auch hier ließe sich über die Auswahl streiten. Ist Götz George eine wichtige Figur des Road Movies, nur weil er ein paar Mal als Schimanski auf dem Motorrad saß? "Faust auf Faust", doch dann lieber wieder zurück in die Sechziger, zu "Bonnie and Clyde", und Schulze schreibt, und hier findet er wieder sein Zentrum und zu seiner Stärke zurück, Wesentliches zusammenzufassen und die eigene Betrachtungsweise als Anhänger des Genres nicht aus den Augen zu verlieren:

"Die stärkste Szene des Films bietet die letzte Sequenz, als die beiden Helden in Sekundenbruchteilen erfassen, daß die tödliche Falle zuschnappt. Im schnellen Schnitt-Gegenschnitt der Großaufnahmen halten sie letzten liebevollen Blickkontakt, ehe eine Maschinengewehrsalve sie durchsiebt und im Tod endgültig vereint."

In locker-lässiger, nie bemühter Sprache versucht sich Berndt Schulz seinem Sujet der Außenseiter anzupassen, und dies ist ihm hoch anzurechnen. Dass er in seiner Auflistung akzeptierte Klassiker des Genres neben Abseitigkeiten und Trashproduktionen stellt, darüber hinaus den deutschen Film, vor allem Wim Wenders und dessen Road Movie-Obsession, nicht vergisst, zeigt sein Bemühen um einen, nun ja, umfassenden Überblick. Jedoch fehlt eine Definition, was denn nun ein Road Movie eigentlich sei. Schulzes Auswahl ist sehr automobilgeprägt. Sein Einbezug von Filmen, die man im ersten Moment nicht als Road Movie bezeichnen würde, ergibt sich aus seiner Lesart, dass jeder Film, in dem irgendwie Benzinverbrauch und Asphalt zu sehen ist, auch dem Genre zuzurechnen sei.

Über einzelne Bewertungen ließe sich natürlich streiten. Seine These, "Thelma & Louise" als gerade noch akzeptabel zu degradieren, da es sich hierbei wenigstens um ein Werk des Regisseurs Ridley Scott handele, bleibt fragwürdig. Wie bereits gesagt liegt Schulzes Schwerpunkt auf den klassisch gewordenen Road Movies der späten Sechziger und frühen Siebziger Jahre (und die sind vermutlich auch seine Leidenschaft). Doch soll sein Buch keine filmhistorische Würdigung sein, sondern ein Lexikon. Der Blick auf die Weiterentwicklung und auf die Zukunft des Genres fehlt. Das macht sich auch dadurch bemerkbar, dass der Autor wichtige, das Genre erweiternde Filme nicht in sein Buch mitaufnimmt bzw. diese nur kurz abhandelt. Dass die meisten seiner Querverweise sich wie die anachronistischen Reminiszensen eines Alt-68ers lesen, erinnert an den älteren Rockmusikhörer, dessen persönliche Bestandsaufnahme bei "Exile on main street" von den Rolling Stones endet. Natürlich könnte man mit dem des Road Movies gänzlich unverdächtigen Niklas Luhmann sagen, dass ein Klassiker eben ein Klassiker sei, weil er ein Klassiker sei. Doch damit wäre auch niemandem geholfen.

Natürlich sind das alles nur kleinkarierte Einwände. Denn Schulzes Lexikon als Bettlektüre im Motel, vor allem im imaginierten Motel, funktioniert dann doch.

Titelbild

Berndt Schulz: Lexikon der Road Movies. Von Easy Rider bis Rain Man etc.
Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2001.
400 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3896022849

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch