Von der Halacha zur Tradition

Shulamit Volkov sieht ein jüdisches "Projekt der Moderne"

Von Anne NussbaumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Nussbaum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Postmoderne Historiographie ist immer noch modern, auch in Israel. Sie hat den Vorteil, dass sie verschiedene Narrative sucht und für legitim erklärt - das ist auch gleichzeitig ihr Nachteil.

Shulamit Volkov, Inhaberin des Konrad-Adenauer-Lehrstuhls für Vergleichende Europäische Geschichte an der Universität Tel Aviv, favorisiert eine solche Geschichtsschreibung, die den Begriff der Minderheit ebenso wie den der Nation dekonstruieren würde. Die zu beschreibende Gesellschaft zerfiele in Einzelteile, bestünde sozusagen nur aus Minderheiten. Ein schöner Gedanke. Doch wie die "Story" einer auf diese Weise zergliederten Kultur dann erzählt werden könne, weiß Volkov, wie sie selbst zugibt, auch nicht. So hält sie sich in der vorliegenden Aufsatzsammlung schließlich doch an eher konventionelle Darstellungsformen.

Einige Prämissen postmoderner Historiographie berücksichtigt sie aber dennoch: sie versucht in ihrer Darstellung der Juden im Deutschland des 19. Jahrhunderts das Bild monolithischer Gruppen aufzubrechen. Dabei geht sie davon aus, dass Verschiedenheiten normal sind. Erklärungsbedürftig seien vielmehr Gemeinsamkeiten. Damit rücken auch interne jüdische Angelegenheiten in den Fokus. Außerdem erhebt Volkov die Forderung nach einer jüdischen Geschichte als Prototypen aller Minderheitsberichte.

Der Band "Das jüdische Projekt der Moderne", der sich als Fortsetzung zu Volkovs "Antisemitismus als kultureller Code" versteht, gliedert sich thematisch in zwei Teile: der erste beschäftigt sich mit dem Antisemitismus, der zweite mit jüdischem Leben im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Dabei ergänzen sich die zehn für diese Publikation überarbeiteten Aufsätze, so dass die Lektüre ein recht umfassendes Zeitbild entstehen lässt.

Im Zentrum steht hierbei der titelgebende Gedanke, dass es so etwas wie das "jüdische Projekt der Moderne" gegeben habe. Sehr trendy, dennoch ein überraschender Gedanke, wenn doch gerade auf die Heterogenität von Gruppen verwiesen wurde.

Im Zuge der Emanzipation verloren die Juden ihre religiöse Identität, die mit ihrer starken Konzentration auf die Halacha, die Regeln der religiösen Lebensführung, eine allgemeine, das Religiöse nicht berührende Tradition überflüssig gemacht hatte. Volkov verwendet den Begriff der Tradition im Sinne einer kollektiven Erinnerung. Für sie ist er ein "Sammelbegriff für den gesamten symbolischen, schriftlichen und institutionellen Apparat, mit dem eine Gruppe die Erinnerung an ihre gemeinsame Vergangenheit, an ihre Werte, ihren Charakter und ihre ererbte Eigenart bewahrt oder zu bewahren versucht." Die orthodoxe Lebensführung aufgebend wurde die Erfindung einer neuen Tradition notwendig, die zu der neuen Stellung der Juden in Staat und Gesellschaft passte. Ein Projekt war dies insofern, als dass es sich nach Volkov um eine mehr oder weniger bewusste, gemeinsame Bemühung handelte - obwohl die deutsche Gesellschaft den Juden nur als Einzelpersonen den Weg in die Gemeinschaft ermöglichen wollte.

Das gemeinsame Bemühen konnte aber durchaus auf verschiedenen Wegen versucht werden. Die Zionisten beispielsweise stützten sich zwar bei ihrem Versuch, die Tradition zu erfinden, auf die moderne jüdische Geschichtsschreibung, teilten also ihr Geschichtsbild mit nicht- oder antizionistischen Juden, interpretierten dann aber das Material um und passten es ihren eigenen Interessen an.

Im Zuge der Identitätssuche wurden neue philosophische und rein ethische Interpretationen des Judentums verfasst, die ihm innerhalb der deutschen bürgerlichen Gesellschaft Anerkennung verschaffen sollten. Volkov will Judentum in Analogie zum Kulturprotestantismus als kulturelles System verstanden wissen. In diesem Zusammenhang entstand auch ein großer Bereich populärer jüdischer Kultur. Diese neue jüdische Tradition blieb in ihrer populären Version nach Volkovs Einschätzung aber ein im Grunde unbefriedigendes kulturelles Projekt, dessen problematischer Charakter schon vor Zerstörung der deutschen jüdischen Gemeinschaft sichtbar wurde.

Einzig einer kleinen Gruppe von Juden gelang es, in den elitären Kreis der intellektuellen Avantgarde einzudringen, ihn sogar mit zu konstituieren. Diese Juden kümmerten sich nicht mehr um jüdische Tradition, da sie die Moderne dieser Tradition konsequent vorzogen. Gerade sie zeigten sich für die Gefahr des aufkommenden Nationalsozialismus besonders blind.

Gegen Eric Hobsbawms These, es bestehe keine Kontinuität zwischen einem jüdischen Protonationalismus und dem modernen Zionismus, weist Shulamit Volkov nach, dass es sich bei dem modernen jüdischen Nationalismus um eine Kombination von alten, ursprünglichen nationalen Elementen und neuen Erfindungen handelt. An Thomas Nipperdeys und Hans-Ulrich Wehlers Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte kritisiert sie die Ausklammerung des Antisemitismus aus der Geschichte des Nationalismus. Und in Abgrenzung zu George Mosse relativiert Volkov das positive Bild der Aufklärung. Mit diesen und anderen Thesen sorgt die Autorin für eine anregende Lektüre.

Titelbild

Shulamit Volkov: Das jüdische Projekt der Moderne. Beck´sche Reihe.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
248 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3406459617

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch