Das Bild des Deutschen an sich

Heinrich Manns "Der Untertan" in einer historischen Hörspielfassung

Von Tobias TemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Temming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sachlich sein, heißt deutsch sein!" So skandiert Diederich Heßling immer wieder in seiner Heimatstadt Netzig, sobald er sich sicher umgeben fühlt von treuen "nationalen und wahrhaft deutschen Männern". Die Geschichte eines dieser "wahrhaft deutschen Männer" und wie dieser zu einer Definition kommt, die den Sachverhalt über den Deutschen endlich einmal auf den Punkt bringt, erzählt uns Heinrich Mann in seinem Zeit- und Gesellschaftsroman "Der Untertan" aus dem Jahre 1914.

Der Protagonist Diederich Heßling durchläuft eine 'typisch deutsche' Kindheit und Jugend. Er wächst als Sohn eines kleinen Papierfabrikanten auf, geht in die Schule und beginnt zu studieren. Natürlich in Berlin, der gloriosen Hauptstadt des Reiches. Vor der kaiserlichen Armee, der "herrlichen Säule der Macht", drückt er sich jedoch, und macht bald seinen Doktor der Chemie. Diederich wird zum alten Herren seiner Burschenschaft geschlagen, und die freudvollen, lasterhaften Zeiten der Studentenzeit neigen sich dem Ende zu. Viel zu schnell geht es wieder heim gen Netzig, wo Diederich, brav deutsch, die "Herrschaft" in der Papierfabrik seines Vaters übernimmt. Er heiratet reich und zeugt Kinder. Heinrich Mann zeichnet ihn als den Inbegriff seiner Zeit, als den Kulminationspunkt aller schlechten Eigenschaften des Deutschen im Kaiserreich, und die Gesellschaft von Netzig als repräsentatives Bild des deutschen autoritätshörigen Bürgertums. Macht, Gewalt und Intrigen sind die wesentlichen Faktoren, die das Leben bestimmen.

Der Lehrer und der Vater waren gleich nach dem Kaiser die höchsten Instanzen. Man hatte sich "der Macht" unterzuordnen und sich in das System einzufügen. Es sind die Folgen dieser Sozialisation, die Diederichs weiteres Leben bestimmen. Von Kindesbeinen an der Faszination der Macht erlegen, steht er im Laufe seines Lebens immer mehr zwischen zwei Extremen: dem hündischen Kriechen vor der Macht der Obrigkeit und vor jedem Mächtigeren sowie dem eigenen Ausüben von Macht. In seiner Fabrik etwa ist Diederich "Herr". Netzig ist seine Welt. Dies ist der Ort, an dem es für ihn um den "Platz an der Sonne" geht. Aber: "Um von den großen Mächten, die er so sehr verehrte, nicht ganz erdrückt zu werden, mußte Diederich leise und listig zu Werk gehen." In dieser Disziplin ist Diederich besonders gut.

Alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel setzt er ein, um dem alten Buck, einem gesetzten Achtundvierziger und Symbol der liberalen Sozialdemokratie seine Position streitig zu machen. Buck ist der einflussreichste Mann in Netzig und steht Diederich als Antipode und Verfechter humanistischer und demokratischer Werte gegenüber. Diederich nimmt den Kampf gegen ihn auf, um den nationalen Geist in der Stadt durchzusetzen.

Auf satirische Weise entlarvt Heinrich Mann das charakteristische Seelenleben des "deutschen Mannes": seinen Götzendienst am Erfolg, das Kriechen vor der Macht, den verblendeten menschenverachtenden Nationalismus und Rassismus und die namenlose Zivilfeigheit in einer patriarchalischen Gesellschaft.

Schon Tucholsky beschrieb dieses Werk als einen "Anatomie-Atlas" des wilhelminischen Kaiserreichs und eine "Enthüllung des deutschen Seelenzustandes." Damals schon war es für die einflussreiche und herrschende Oberschicht eine erschreckend wahre und deutliche Zeitanalyse und Kritik, mit grimmiger Komik erzählt. Trotzdem konnte "Der Untertan" nicht vor der kaiserlichen Zensur bewahrt werden.

Walter Andreas Schwarz fasst dieses Werk in eine beeindruckende Hörspielfassung von überraschender Natürlichkeit. Bei der opulenten Besetzung von über 50 Sprechern werden die Figuren und Charaktere unmittelbar und fassbar. Den Hauptanteil an dieser Leistung trägt der unvergessene Heinz Drache, der die Rolle des Diederich Heßling spricht. Die ungeheure Modulationsfähigkeit seiner Stimme passt sich perfekt den jeweiligen Anforderungen der Rolle an. Keine verklumpten Dialoge, keine gezwungen zusammengewürfelten Textfragmente, um den originalen Ablauf der Dramaturgie des Buches zu wahren. Zwei Erzählerstimmen vermitteln und interpretieren das Geschehen: nüchtern, prüfend, souverän spricht Walter Andreas Schwarz seinen Part, als raunender, innerlich beteiligter Beschwörer der dumpfen Kleinstadtatmosphäre Heiner Schmidt den seinen. Gekürzt wird nur an wenig relevanten Stellen, die von den Sprechern Walter Andreas Schwarz und Heiner Schmidt gekonnt zusammengefasst werden. Selbst das äußere Erscheinungsbild der Edition steht im besten Verhältnis zur Qualität der Inszenierung.

Diese sorgfältige, aufwändige Hörspielinszenierung des WDR von Walter

Andreas Schwarz und dem Regisseur Ludwig Cremer aus dem

Jahre 1971 ist ein Beispiel für die Schätze, die in den Funkhäusern liegen und jetzt, durch den Siegeszug des Hörbuchs, erstmals in den Handel kommen.

Titelbild

Heinrich Mann: Der Untertan. 4 MCs.
Der Hörverlag, München 2001.
350 Minuten, 30,60 EUR.
ISBN-10: 3895848042

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