Verdi als Handbuch

Musikalische und andere Zeichen seiner Zeit

Von Ulrich DrünerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Drüner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter den auch in Deutschland zahlreichen Neuerscheinungen zu Verdis 100. Todesjahr nimmt das von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert herausgegebene Verdi-Handbuch eine besondere Stellung ein, unternimmt es doch eine Gesamtschau, wo ansonsten viel Partielles geboten wird. Im Gegensatz zu vergleichbaren Handbüchern, geht es den Herausgebern weniger um eine Kompilation musikwissenschaftlicher Fakten, sondern vielmehr um eine interdisziplinäre Darstellung. Aspekte der Literatur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften werden ebenso kompetent behandelt wie die Fragen der musikalischen und bühnentechnischen Praxis.

Biographisches im engeren Sinne bietet die eindrückliche Einleitung, in der Anselm Gerhard zahlreiche, oft von Verdi selbst gezimmerte Klischees über die Person des Komponisten abzutragen und durch differenzierte Statements zu ersetzen sucht. Im anschließenden ersten Teil, "Verdis Wirken im italienischen 19. Jahrhundert", skizzieren Martina Grempler, Volker Kapp, Michael Walter und Sebastian Werr die geschichtlichen Parameter Restauration, Risorgimento, Nationalbewegung und Klerikalismus sowohl allgemein historisch wie auch hinsichtlich der speziellen Auswirkungen auf Verdi. Besondere Abschnitte gelten der italienischen Literatur und der Wirtschaftspraxis des Operntheaters, das in Italien eine herausragende gesellschaftliche Rolle spielte.

Der zweite Buchteil, "Verdis Werk zwischen Konvention und Innovation", behandelt die Faktoren, die Verdis Schaffen ermöglichten. Thomas Betzwieser gibt einen Abriß der Librettogeschichte, Luca Zoppelli stellt die Kooperation Komponist-Librettist, den Kompositionsprozeß bei Verdi und die Editionsgeschichte dar, Kurt Malisch beschäftigt sich mit Stimmtypen und Rollenkonventionen zu Verdis Zeit. Es folgen Untersuchungen zu Verdis Umgang mit den dichterischen und musikalischen Konventionen seiner Zeit und der sich dabei entwickelnden Ästhetik (Anselm Gerhard); weiter wird Melodiebildung und Orchestration behandelt (Leo Karl Gerhartz), ferner die Praxis des italienischen Theaters (Arne Langer) und was Verdi daraus machte (Johannes Streicher). Trotz Verdis Geiz an Äußerungen zum eigenen Schaffen und trotz seiner Theoriefeindlichkeit erstellen die Autoren ein lebendiges Bild dessen, was Verdi vorfand und was er zur Entwicklung der Opernästhetik geleistet hat. Dabei werden die dramaturgischen Aspekte sehr überzeugend abgehandelt, während Verdis Umgang mit dem musikalischen Material nicht in allen Teilen deutlich wird. So enttäuscht z. B. die nur sporadische Behandlung der orchestralen Arbeit, bei der man gerne erfahren hätte, was Verdis angebliche "Leierkasten"-Technik so wirkungsvoll macht. Denn diese stellt sich zumindest bis "Don Carlos" als ein höchst differenziertes System rhythmischer Kleinelemente dar, dank derer Verdi eine effiziente, aber wesentlich kompaktere Beschreibung emotionaler Zustände erreicht als Richard Wagner mit seiner manchmal allzu gesprächigen Leitmotivtechnik. Eine Untersuchung dieses wesentlichen Aspekts von Verdis Komponieren fehlt weiterhin.

Der dritte Buchteil gilt den einzelnen Werken Verdis, wobei das Opernschaffen von einer eindrucksvollen Schar ausgewiesener Spezialisten ausführlich und höchst kompetent dargestellt ist; außer den oben Genannten trifft man auch auf Ulrich Schreiber, Egon Voss, Hans-Joachim Wagner, Sabine Henze-Döhring, Sieghart Döhring und Dietmar Holland. Dabei entspricht die für alle Opern verwendete Gliederung bekannten Standards: Angaben zu Text, Uraufführung, Besetzung folgen Abschnitte über Entstehung, Handlung, Wirkungsgeschichte und Diskographie. Die Kommentare der Autoren zu den einzelnen Opern darf man fast durchweg als brillant bezeichnen; sie lassen Verdis Kunst in ihrem ganzen Reichtum und ihrer Vielschichtigkeit erscheinen. - Als problematisch empfinde ich die Behandlung der übrigen Werke Verdis, bei deren Anordnung ich kein System zu erkennen vermag. Spätes und Frühes, Intrumentales und Vokales, teilweise auch Publiziertes und Unpubliziertes sind durcheinandergemischt. Da es für Verdi noch immer kein systematisches Werkverzeichnis gibt, wäre eine streng nach Gattungen geordnete Klassifizierung und größere bibliographische Konsequenz zu wünschen gewesen.

In einem letzten Abschnitt geht es um die Wirkungsgeschichte, um Verdi-Sänger und Dirigenten (Kurt Malisch), Verdis Werk im Lichte des Regietheaters und des Films (Wolfgang Willascheck), Verdi als Mythos (Simone De Angelis). Im Anhang finden sich Zeittafel, Glossar, Personenverzeichnis, Bibliographie und Register. Trotz kleinerer Vorbehalte eine äußerst wichtige und empfehlenswerte Neuerscheinung, die insbesondere durch die vorbildlichen Opernanalysen besticht.

Titelbild

Anselm Gerhard / Uwe Schweikert (Hg.): Verdi Handbuch.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2001.
746 Seiten, 65,40 EUR.
ISBN-10: 3476017680

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