Geschlechtsspezifische Antagonismen im Wissenschaftsbetrieb

Londa Schiebingers Aufforderung an die Naturwissenschaften, allen zu dienen

Von Julia EstorRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Estor

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Historikerin Londa Schiebinger verfolgt und enttarnt in ihrem Buch "Frauen forschen anders" den Mythos der Geschlechterkomplementarität in der naturwissenschaftlichen Forschung. Stereotype Erwartungen scheinen hier eine sich perpetuierende Eigendynamik zu entwickeln, die dazu führt, dass Empathie, Beziehungsorientierung, integratives Denken, Geduld und Empfindsamkeit als spezifisch weibliche Begabungen im Rahmen methodologischer Vorgehensweisen bezeichnet und gewertet werden. Indessen handelt es sich hierbei - wie Schiebinger im ersten Teil ihres Buches plausibel veranschaulicht - um die Auswüchse der gesellschaftlich geprägten Vorstellung von den per definitionem naturgegebenen Geschlechtstypen, deren Einfluss innerhalb der Wissenschaftslandschaft ebenso evident ist wie in den übrigen gesellschaftlichen Bereichen. Schiebinger akzentuiert nun überaus eindrücklich, dass sehr wohl alternative Forschungsmethoden entwickelt wurden, die aber völlig geschlechtsunabhängig sind. Begabungen sind freilich weniger geschlechtsbezogen denn individuell gebunden, und so schreibt sie äußerst lakonisch: "Einen 'feministischen' oder 'weiblichen' Stil, den man einfach so am Labortisch oder am Klinikbett einstöpseln könnte, gibt es nicht". In diesem Sinne plädiert Schiebinger für die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins von sozialer Geschlechtsidentität in den Naturwissenschaften wie auch für tiefgreifende strukturelle Änderungen in dieser Wissenschaftskultur, d. h. die geschlechtlich codierten Strukturen und Organisationsformen in den Naturwissenschaften müssen der geschlechterbezogenen Analyse zugänglich gemacht werden.

Darüber hinaus bringt ein interkultureller Vergleich der ansonsten weitgehend an US-amerikanischen Verhältnissen orientierten Analyse Schiebingers frappierende Erkenntnisse zum Vorschein. So schneidet Deutschland hinsichtlich der Frauenquote in den Naturwissenschaften - ganz im Gegensatz zur ehemaligen DDR - denkbar schlecht ab, nicht aber weitaus weniger privilegierte Gesellschaften wie etwa China oder die Türkei. In China ist der Frauenanteil in den Natur- und Ingenieurwissenschaften sogar höher als in den USA.

Auf diesen interkulturellen Vergleich aufbauend, beleuchtet Schiebinger im zweiten Teil den Zusammenstoß der Kulturen innerhalb der Naturwissenschaften und meint die scheinbare Unvereinbarkeit der beiden kulturell bestimmten Geschlechter. Sie unterstreicht damit die Tatsache, dass Frauen durch die Konsolidierung der sozialen Geschlechtsidentität in diesem Bereich v. a. seit dem Prozess der Industrialisierung gegen Ende des 18. Jahrhunderts und der damit verbundenen Entstehung der bürgerlichen Familie mit ihrer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung noch immer ausgegrenzt und diskriminiert werden. Diese Segregation der Geschlechter im Wissenschaftsbereich ist lediglich die Folge und eine Fortführung der sozialisatorisch gewachsenen Realität, denn - so erklärt die Verfasserin - Frauen und Männer leben von der Wiege an gewissermaßen in getrennten Kulturen mit einem je eigenen Repertoire an (non-)verbalen Ausdrucksmöglichkeiten.

Anschließend wird der höchst strapaziöse Spagat zwischen Erwerbs- und Familienarbeit der Frauen beschrieben: "Die Wissenschaft ist - wie das Berufsleben überhaupt - ganz selbstverständlich in der Annahme organisiert worden, die Gesellschaft müsse sich nicht reproduzieren". Frauen 'mit Anhang' sind also gegenüber jenen, die sich gegen die reproduktiven Gebote entschieden haben, beruflich eindeutig im Nachteil. Das Dilemma der doppelbelasteten Frauen hätte dieser Ausführlichkeit vermutlich nicht bedurft, weiß man doch heute gemeinhin bestens Bescheid über die Beschaffenheit der dualistischen Rollenfunktionen und die asymmetrische Organisation der Geschlechter.

Im dritten und letzten Teil werden die frauenspezifischen Entwicklungen in den verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen expliziert. Im Gegensatz zur Biologie wie auch zur medizinischen Forschung und Praxis, in denen Frauen schon seit langem Fuß gefasst haben, sind die Wissenschaftskulturen der Mathematik und Physik noch immer weitgehend eine Männerdomäne. In der Archäologie wiederum beginnt die Geschlechterforschung sich derzeit immer weiter auszubreiten.

Schiebingers Schlussfrage "Hat der Feminismus die Naturwissenschaften verändert?" ist dann wohl auch eher rhetorischer Art, betrachtet man vor allem die letzten (frauen-)bewegten Jahrzehnte, in denen immer mehr Frauen die sogenannte 'gläserne Decke' durchbrochen haben und kraft ihrer Beharrlichkeit und unter beständiger Beweisstellung ihrer Kompetenzen und Qualifikation bis in Führungspositionen vorgedrungen sind. So muss auch Schiebinger gestehen: "Aus der historischen Perspektive betrachtet, ist der Aufstieg der Frauen bemerkenswert". Größere Relevanz ist in ihren Augen allerdings dem Faktum zuzuordnen, dass durch die feministische Kritik die geschlechtliche Codierung, die in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Theorien und Explorationen zu finden war und zum Teil noch immer sehr subtil die jeweilige Forschungsrichtung bestimmt, beleuchtet und daraus resultierend ein Modell geschaffen wurde, diese einst natürlich erscheinende Sozialstruktur zu beheben. In diesem Sinne fordert Londa Schiebinger eine "verträgliche Naturwissenschaft" und stellt mit diesem prononcierten Plädoyer "die Werte, an denen sich die naturwissenschaftliche Forschung ausrichtet, in den Mittelpunkt". Sie akzentuiert in diesem Kontext die Notwendigkeit einer intensiven Kooperation zwischen "Wissenschaftlern, die eine geschlechterbezogene Kritik der Naturwissenschaften entwickeln, und den in den Naturwissenschaften tätigen Praktikern".

Schlußendlich spezifiziert Schiebinger ihre gedeihlichen Anregungen zur Erforschung der sozialen Geschlechtsidentität in den Fachkulturen der Naturwissenschaften. Das dabei einzusetzende Verfahren der geschlechterbezogenen Analyse wird von ihr detailliert und verständlich veranschaulicht und erscheint als eine gangbare Möglichkeit, um Visionen entlang des Gerechtigkeitsprinzips und jenseits aller geschlechtsspezifischen Separierungstendenzen zu realisieren: "Die Naturwissenschaften sind Ausdruck einer Menschheitsbestrebung, die allen dienen muß, Frauen und Feministinnen eingeschlossen".

Titelbild

Londa Schiebinger: Frauen forschen anders. Wie weiblich ist die Wissenschaft?
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
326 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3406466990

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