mein herz ist ein berliner zimmer

Norman Ohler schreibt einen politischen Roman

Von Eva LeipprandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Leipprand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Sonne, zermürbt von ihrer gewaltigen Arbeit, die Stadt den gesamten Tag über zu erhellen, sank kraftlos in die Häuserflut und platzte auf, spülte ihren orangen Rest über den Asphalt der Straßen: Reinigung." Was für eine schräge fremde Sprache, was für ein eigenwilliges Buch. Nicht der schicke Berlin-Roman, den man von "Mitte" erwartet, obwohl er genau dort spielt, am Hackeschen Markt, im letzten Haus, das noch nicht frisch herausgeputzt ist, das noch die alte Atmosphäre atmet, "ehemaliges Juden- und Verbrecherviertel. Franz Biberkopf. Huren- und Freakgegend", eine Atmosphäre, die mit den grellen Bildern des Expressionismus heraufbeschworen wird. Das Haus, gleißend durchzuckt vom Schein nächtlicher Schweißarbeiten, bebt im Rattern der Trams. Im Keller verschüttet: einer der legendärsten Nachtclubs der zwanziger Jahre. Unten in der Bar Nadine der historische Kurzlehrgang an der Wand: "Früher Arier, dann Proletarier, jetzt nur noch Prol."

Kurz bevor der Entkernungstrupp eintrifft, um auch dieses letzte unberührte Haus noch gleichzuschalten und zu "vercocktailisieren", mietet sich Klinger hier ein. Klingers Londoner Internet-Firma ist gerade kollabiert, er ist orientierungslos in der fremden Stadt. Seine bisherige "überwache Netz- und Affärenexistenz" hat ein Ende, er ist sozusagen offline: "Ihr Content wird nicht mehr gebraucht."

Was nun geschieht in diesem durch seltsame Klänge, verlassene Treppenhäuser, geisterhafte Stimmen, unwirkliche Bewohner und rätselhafte Botschaften ins Mystische gehobenen Haus, könnte man als vorwiegend innerpsychischen Vorgang lesen - die selbstzerstörerische Antwort auf die Brutalität der New Economy. Klinger ist aus der Gesellschaft der Erfolgreichen herausgefallen, sieht die ihn umgebende hedonistische Oberflächlichkeit mit fremden Augen - mächtige, undurchschaubare Netzorganismen überall, so wie das Warenhaus, wo er als Sicherheitsmann arbeitet: eine durch Werbung in Gang gehaltene, von Monitoren überwachte kalte Welt. Das Warenhaus liegt am Alexanderplatz, der nun, wie um Döblins Sicht zu bestätigen, sein Recht als literarische Berlin-Metapher vom Potsdamer Platz zurückerobert. Klinger entwickelt erst Schlaf- und Wahrnehmungsstörungen und dann, auch unter Einsatz von Drogen, eine Art multipler Persönlichkeit. Er nimmt Kontakt mit Igor auf, seinem Vormieter, der in der Wohnung umgekommen ist. Dessen Stimme lockt ihn aus der dunklen Schlafhöhle heraus mit Allmachtsphantasien. Igor, ehemaliger DJ, jetzt entkörperlicht im Netz, hat einen "infrasound" entwickelt, den er nun einspeisen will, vom "archimedischen Punkt des Hauses", über die Hochspannungsleitungen der Trams oder die Frequenz ihrer Motoren, "wir bauen ein riesiges instrument und greifen von hier oben direkt in die stadtatmo ein", im Kampf gegen die "Style-Lämmer", gegen die "Szene-Affen", das "Meer von Floskeln da draußen" und die "Verelendung" von Mitte durch "materiellen Wohlstand". Igors Visionen der Selbstentgrenzung zu "purem Geist" werden immer wieder in biblischen Kontext gerückt und entwickeln einen starken Sog. "das ich ist eine geisteskrankheit des menschen", lautet die Botschaft; "im zeitalter der polyphrenie" finden Konflikte nicht mehr außen, sondern innen statt, sind "mentaler art". Der Auftrag: "du musst erst sterben, um auf frische Gedanken zu kommen".

Die Möglichkeit des Drogentods ist dem Roman vorangesetzt als ein Ende, "das zu vermeiden ist". Tatsächlich nimmt die tagebuchartig aufgezeichnete Geschichte einen positiveren Verlauf. Unterstützt von Sophia, der Heilsbringerin in schwarzer Hurenkluft, gelingt es Klinger, Igors Verstrickung wahrzunehmen - er hat "die neue Balance und Mitte nicht gefunden" und sich selbst in den Untergang getrieben. Der Titel "Mitte" meint nicht nur die Stadt, sondern auch den Menschen. Im letzten Abschnitt wird der Anfang neu geschrieben und Igors Motto umgedreht: "du musst erst leben, um auf frische Gedanken zu kommen."

Der in einem eigenartigen Schwebezustand gehaltene Roman, selbst ein dicht gewebtes Netzwerk, lässt sich aber auch lesen als Science-Fiction. Die Möglichkeit der totalen Vernetzung wird vorweggenommen, das Ziel ist die Unsterblichkeit des Menschen: "Das letzte Produkt, das im Regal noch fehlt." Der Kampf um den totalen Zugang zu den Informationen ist bereits im Gange. Der Widerstand wird organisiert von dem im Netz untergetauchten Igor und seiner visionären Poesie. "mein herz ist ein berliner zimmer im lichte der schienenschweißer". Dieses Herz hält eine untergründige Verbindung zu dem japanischen Dichter Mori Ogai, seine Sprache ist eher poetisch als die einer schlüssigen Theorie. "dieses immerwährende lied der stadt, das murmeln und sanfte rauschen."

Trotz einiger thematischer Anklänge an Ohlers "Quotenmaschine", die als erster Internetroman gehandelt wird, steht in "Mitte" das Experimentieren mit Sprache und Netz nicht mehr im Vordergrund. Igors "altmodische" Radikalität gibt diesem Roman die Möglichkeit - was in der zeitgenössischen deutschen Literatur selten geschieht -, einmal ganz aus dem System (hier in Berlin Mitte verdichtet) herauszutreten und es in aller Fremdheit von außen zu erleben. "eine materiell ausgerichtete spezies muss notwendigerweise vor die Hunde gehen", sagt Igor, und: "es wird nicht erlösung hergestellt, sondern ein riesiger mangel." Als politischer Roman ist "Mitte" deshalb besonders interessant, weil Igors rauschhafte Gegenwelten nicht die letzte Antwort des Buches sind.

Titelbild

Norman Ohler: Mitte. Roman.
Rowohlt Verlag, Berlin 2001.
256 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3871344273

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