Das Heilige und das Profane

Niklas Luhmanns Konzept der Religion der Gesellschaft

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die großen Denksysteme, deren es in der Weltgeschichte nur noch wenige gibt, nötigen mir Hochachtung ab." Worauf ließe sich dieses Wort Carl Zuckmayers heute beziehen, wenn nicht auf Niklas Luhmanns großes Projekt einer Systemtheorie der Gesellschaft? Noch zu Lebzeiten konnte Luhmann den Schlussstein über sein einzigartiges Theoriegebäude setzen, nämlich das zweibändige Werk "Die Gesellschaft der Gesellschaft" (1997), und zügig sind aus dem Nachlass weitere Bausteine dieses Projektes ediert worden, darunter Organisation und Entscheidung (2000), "Die Politik der Gesellschaft" und "Die Religion der Gesellschaft" (beide 2000). "Die Religion der Gesellschaft", vom Suhrkamp Verlag in kardinales Lila gekleidet, ist - nach Luhmanns Buch "Funktion der Religion" (1977) - die zweite religionssoziologische Studie des Systemtheoretikers, die den Versuch macht, Religion als Aspekt der Gesellschaftstheorie zu beschreiben.

Weder die analytische noch die ontologische Methode haben klären können, was Religion eigentlich ist. Gelingt es der soziologischen? Zumindest kann sie Religion als soziale Tatsache bestimmen. Denn Religion ist - nach Durkheims Definition - zuallererst Moral. Sie definiert sich durch den Doppelaspekt von "Ausdehnung" (désir, Begehren, Wertschätzung) und "Inhibierung" (sacré, Sanktion, Verbot). Als moralische Tatsache ist Religion eine soziale Realität: Die Gesellschaft, die sich auf einen "in seiner Faktizität umstrittenen Gott" nicht (mehr) berufen kann, transzendiert sich selbst via Moral und Religion.

Indem Luhmann diverse ältere Konzepte der Religionssoziologie diskutiert (René Girard, Georg Simmel, Max Weber), filtert er das ihnen Gemeinsame heraus, nämlich eine "spezifische Dynamik", die ein abstraktes Moment der Kommunikation betrifft: "Steigerungsmöglichkeiten, die Einschränkungen erfordern" und "Einschränkungen, die Steigerungen ermöglichen". Er benennt damit ein Defizit dieser klassischen Religionssoziologie, nämlich die Tatsache, dass jene nicht - oder nur in einem ganz äußerlichen Sinne - von Kommunikation handelt. Genau hier liegt Luhmanns Ansatzpunkt: Er schlägt vor, den Begriff Mensch durch den Begriff Kommunikation zu ersetzen und damit die "anthropologische Religionstheorie" durch eine "Gesellschaftstheorie".

Schon dieser Auftakt von Luhmanns Studie zeigt den systematischen Zugriff des Soziologen. Auch dieser ist durch den Doppelaspekt von Ausweitung und Inhibierung charakterisiert, denn Luhmanns Fragestellung beansprucht höchste Tragweite, indem sie sich generell auf das System der Gesellschaft bezieht, doch bleibt sie vergleichsweise überschaubar, indem sie von der "humanistischen" Tradition der Religionstheorie absieht, deren Problem es war, allgemeine Aussagen über Religion zu treffen, die "für jedes empirische Bewußtsein gelten" konnten.

Zu den wichtigsten Leistungen dieser Akzentverschiebung - Kommunikation statt Ontologie - gehört, dass spezifische Aspekte des Religiösen wahrnehmbar bleiben. Etwa als Einschränkung von Kommunikation im Bereich des "Geheimnisvollen" oder "Sakralen", jedoch auch als Ausweitung von Kommunikation, wo bestimmte Denkfiguren der Religion (Paradoxa etwa) Unterscheidungen unterlaufen, auf denen dann das 'Mysterium' der Religion beruht (beispielsweise die Trinität).

Luhmann will zeigen, wie die Gesellschaft den Bereich der Religion definiert, nämlich dadurch, dass sie den "Bereich" der Religion als "sacrum" abgrenzt gegen alles, was nicht so bezeichnet werden kann: das Profane. Luhmann geht es also um den "Ort der Unterscheidung" von sakral/profan. Im Gegensatz zu Durkheim fahndet Luhmann nicht nach "spezifisch religiösen Formen" oder Inhalten, auch nicht danach, was "die Leute" für Religion halten, denn das hieße, das eigentliche Theorieproblem durch eine "Phänomenbeschau" oder ein Diktat "von außen" zu ersetzen. Was Religion ist, so Luhmanns einfache Vermutung, lässt sich nicht beobachten, weil Religion zu jenen Sachverhalten gehört, die sich selbst bezeichnen und sich selbst eine Form geben. Von ihren Anhängern erfordert sie "Eingestimmtsein", nicht Beobachtung. Direkte Beobachtung von Religion ist extern auch nicht möglich, und nur "im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung" kann Religion überhaupt definiert werden. Religionstheorie beobachtet folglich die Selbstbeobachtung der Religion, ihre Selbstdefinition, ihre Selbstthematisierung, die Art und Weise, in der sie sich Formen gibt.

Die Fragestellung der Religionssoziologie zielt folglich darauf, wie sich Religion selber definiert und wie sie anderes, was nicht zu ihr gehört, ausschließt. Um diese Leitlinie seiner Differenzierung klarer zu ziehen, ersetzt Luhmann den Begriff des "Subjekts" durch den Begriff des "Beobachters". Die systemtheoretische Position geht nun von der Frage aus, ob sich die je aktualisierte Unterscheidung in der Kommunikation bewährt, das heißt zustimmungsfähig ist. Wenn ja, so gilt es als "objektiv", wenn nein, so wird das Nicht-Zustimmungsfähige als "subjektiv" marginalisiert. Im Falle eines Religionssystems ist auf die vorgeschlagenen Glaubensinhalte zu achten, wenn man erkennen möchte, was für dieses System "sinnvoll" oder "sinnlos" ist.

Zu den wichtigsten Fragen, auf die das Funktionssystem Religion eine Antwort geben muss, ist die Frage nach dem Sinn des Todes, nach dem Verhältnis von "Tempus" und "Äternitas". 'Sinn' ist ein Medium autopoietischer Systeme, daher kann es in diesem Medium kein "letztes Element" geben. Folglich muss Religion im Formenbereich des Mediums Sinn gesucht und aufgesucht werden: "Das allgemeinste, nicht transzendierbare Medium für jede Formbildung, das psychische und soziale Systeme verwenden können, nennen wir Sinn." Die Unterscheidung von Medium und Form ist elementar: Eine Form (ein wahrnehmbares Ding, eine verstehbare Aussage) kann beobachtet werden, ein Medium nicht. Beobachtungen setzen unterscheidbare Formen voraus, während Sinn ein Medium ist, in dem Unterscheidungen getroffen werden. Sinn ist daher die Einheit der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit und wird dort erfahrbar, wo sich Religion allererst bewähren muss, in der Bewältigung und Deutung des Todes als Postulat eines sinnvollen Übergangs.

Zum wunderbar Klaren und Vorbildlichen an Luhmanns Œuvre gehört, dass er in jedem Aufsatz, jedem Vortrag, jedem Buch aufs Neue seine Begriffe definiert, dass er sich nicht zu schade ist, seine wichtigsten Basispostulate jedes Mal geduldig zu erläutern, Begriffe wie System, Codierung, Information, Relation, Autopoiesis oder "re-entry". Gleichwohl liegt es in der Natur seiner Theorie, dass sie den Leser überfordert und bisweilen nur ein vages Verstehen zulässt. Die Darstellung der Religion der Gesellschaft ist Luhmann ein ernstes Anliegen, was nicht ausschließt, dass er bisweilen auch eine ironischen Farbe zulässt: "Die Erbsünde wird durch Taufe umgewandelt in einen Status, in dem es sich lohnt, zu sündigen und sich dies vergeben zu lassen." Derlei Operationen, im Medium Sinn produziert und reproduziert, laufen in der "realen Welt" ab und nicht in einer "transzendentalen Sphäre" außerhalb der Welt. Sie können etwas trockenen Witz vertragen.

Titelbild

Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
376 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3518582917

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