Editorial

Die zweite Nummer von literaturkritik.de geht auf etwa sechzig Bücher ein, doppelt so viele wie die erste Nummer. Auch der Umfang hat sich verdoppelt. Weil es uns ohnehin störte, daß die Nr. 1 im zweiten und die Nummer 2 im dritten Monat des Jahres erscheint und so weiter, haben wir uns kurzer Hand entschlossen, dieses dicke "Heft" zur Doppelnummer 2/3 zu erklären. Zu Beginn des vierten Monats wird also unsere Nr. 4 vorliegen.

Themenschwerpunkt sind dieses Mal die "Gefühle". Seit Daniel Golemans Buchbestseller "Emotionale Intelligenz" sind sie zunehmend im Gespräch der Wissenschaften und der Künste. Hier haben sie eine Bedeutung, die lange Zeit unterschätzt wurde. Wir wollen uns, auch in Zukunft, daran beteiligen, erweiterte Einsichten in die kulturelle Bedeutung emotionaler Kompetenzen zu gewinnen. Sie werden übrigens, wie wir festgestellt haben, sogar für eine Internetzeitschrift dringend gebraucht.

Wie die vorige befaßt sich auch diese Nummer mit einem heiklen Streit. Und auch hier geht es wieder um Formen der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen, konkreter: um eine angebliche Fälschung von Erinnerungen an den Holocaust. In Zusammenarbeit mit Waltraud Strickhausen hat Barbara Bauer, Professorin am Marburger Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien, den Fall rekonstruiert und kommentiert. Der in der Schweiz lebenden Autor Bruno Doessekker alias Binjamin Wilkomirski hatte 1995 im Jüdischen Verlag das Buch "Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948" veröffentlicht. Das Buch fand große Resonanz, stieß jedoch von Anfang an auch auf Zweifel hinsichtlich seiner Authentizität. Durch einen Artikel Daniel Ganzfrieds in der schweizer "Weltwoche" wurde eine Debatte ausgelöst, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Barbara Bauer und ihre Mitarbeiterin Waltraud Strickhausen stellen mit ihren Analysen und Thesen die Debatte auf eine neue Grundlage.

Vor 250 Jahren ist uns Goethe geboren. Literaturkritik.de geht "mit Goethe durch das Jahr". Bis Dezember stellt jede Nummer Neuerscheinungen zu Goethe vor. Wir demonstrieren damit: Internet und Traditionsbewußtsein schließen sich nicht aus. Neben Sachbüchern zu ganz verschiedenen Themen erhält auch in dieser Ausgabe die 'schöne Literatur' großes Gewicht. Neben der Belletristik des Frühjahrs besprechen wir noch Titel aus dem vergangenen Jahr. Denn weil literaturkritik.de im Netz verbleibt und wir einen Fundus wichtiger Titel anlegen wollen, haben wir hier Nachholbedarf.

Wir haben sehr viele freundliche Ermunterungen und gelegentlich auch konkrete Verbesserungsvorschläge erhalten. Dafür danken wir ganz herzlich und wünschen uns weiterhin eine derart erfreuliche und hilfreiche Resonanz. Auf Wunsch etlicher Interessenten stellen wir inzwischen eine Druckfassung dieser Internet-Zeitschrift her. Weitere Hinweise dazu finden Sie im Impressum.

Wir geben zu: Es ist ein gutes Gefühl, literaturkritik.de leibhaftig in den Händen halten und darin blättern zu können. Ein gutes Gefühl ist es jedoch auch zu wissen, daß jede Internetbenutzerin (siehe das rezensierte Buch über "digitale Frauen"!) auf der Welt ab 1. März umstands- und kostenlos Nr. 2/3 von literaturkritik.de lesen kann - und darin auch etwas über gute und schlechte Gefühle.

Thomas Anz, Alexander Berger, Lutz Hagestedt