Hörspiel des Monats Januar 1999

"Gespräche mit Lebenden und mit Toten"
von Swetlana Alexejewitsch
Bearbeitet von Frank Werner nach dem Buch "Tschernobyl - Eine Chronik der Zukunft"
Regie: Ulrich Gerhardt
Produktion: SR/NDR/SFB-ORB/WDR

Begündung der Jury:

"Gespräche mit Lebenden und Toten" ist ein streng gebautes dokumentarisches Hörspiel über das Reaktorunglück von Tschernobyl und seine Folgen. In Augenzeugenberichten wird Geschichte durch Geschichten vermittelt; in der kollektiven spiegelt sich die persönliche Katastrophe wider. Der Versuch einer Annäherung an den nicht mehr darstellbaren Schrecken zielt über den atomaren GAU hinaus: Im Tod der Einsatzkräfte und im Schmerz der Hinterbliebenen zeigt sich die Hilflosigkeit des Menschen gegenüber der von ihm selbst verursachten Zerstörung. Das Scheitern der Informationspolitik wird zu einem Symbol für das Scheitern der sozialistischen Idee. 'Glasnost' und 'Perestroika' greifen nicht und die Politik verliert ihre Glaubwürdigkeit.

Der nach wie vor hohe Aktualitätsbezug des Stücks erfährt seine besondere Tragik aus dem Scheitern des Versuchs einer Wiedergutmachung an der Natur und - vor allem - aus seiner menschlichen Dimension: Rätselhaft, woher die Betroffenen die Kraft zur Liebe nehmen, wie sie ihr Schicksal meistern, weshalb sie ihre Schwangerschaft mit dem verstrahlten Fötus verbergen und sich dem Tod ausliefern. "Ich liebe dich", sagt eine der Frauen, seit kurzem verheiratet, seit kurzem schwanger, seit kurzem Witwe, "aber ich wußte noch nicht, wie sehr."

Neben der verdichteten Bearbeitung und Textauswahl von Frank Werner besticht die klare, ökonomische und geradezu minimalistische Inszenierung von Ulrich Gerhardt. Vier Stimmen erzählen anschaulich vom Unfaßbaren und schildern äußere Eindrücke und Ereignisse als innere Reflexion. Daraus entsteht ein Sog, dem sich der Hörer trotz der relativ langen Strecke nicht entziehen kann. Die sparsam eingesetzten und das Stück gliedernden Geräusche und akustischen Zeichen vermitteln einen sinnlichen Eindruck von einer kalten, grauen und leblosen Landschaft, die der Mensch verseucht zurückläßt.