Ein Plädoyer für die gender studies und andere Vorbemerkungen

Die These, daß die von jedem und jeder gelebte, täglich neu reproduzierte Geschlechtsidentität (gender) nichts anderes sei als ein kulturell konstruiertes Produkt, ein kunstvoll-künstliches Gewebe von Bildern, Zuschreibungen, Vorstellungen, Projektionen hat innerhalb der Kulturwissenschaften neue Forschungsperspektiven eröffnet. Welche Stereotypen von 'Männlichkeit' und 'Weiblichkeit' gibt es? Wie widersprüchlich sind sie und wie werden sie eingesetzt und vermittelt? Wodurch verändern sie sich? Welche Machtmechanismen liegen den Geschlechterverhältnissen zugrunde und wie funktionieren sie? Solche Fragen stehen im Mittelpunkt der gender studies, die sich aus den women's studies entwickelt haben und neuerdings die men's studies sowie die queer studies mit einschließen. Sie haben sich in den letzten fünfzehn Jahren auch im deutschen Raum von einer subkulturellen Bewegung zu einem respektablen Forschungszweig gemausert. Eine der jüngsten Schwellenüberwindungen zeigt die Einrichtung des ersten interdisziplinären Gender-Studiengangs an der Humboldt Universität in Berlin, der seit dem WS 1997/98 mit dem akademischen Grad der Magistra (oder natürlich auch des Magisters!) abgeschlossen werden kann. Geschlechterforschungseinrichtungen werden laufend neu gegründet: Man denke nur an das Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin unter der Leitung von Karin Hausen, das Zentrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse in Frankfurt a.M., das Ute Gerhardt leitet, oder an den von Silke Wenk 1997 an der Universität Oldenburg eingerichteten Aufbaustudiengang "Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien".

Konzepte des 'Weiblichen' und des 'Männlichen' gehen in natur-, sozial- und kulturwissenschaftliche sowie mythisch-religiöse oder künstlerische Diskurse ein. Daß es gerade auch literarische Texte sind, in denen sich geschlechtsspezifisches Bewußtsein oder Unbewußtsein ausprägt und in denen Geschlechterbilder reproduziert oder hinterfragt werden, legt es nahe, der Kategorie gender bei der Analyse von Texten mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Sie sollte, neben den beiden anderen Differenz-Dimensionen race und class, die ebenfalls die Prozessualität hierarchisierender Differenzierung akzentuieren und deren Vernachlässigung dem Feminismus seit den achtziger Jahren vorgeworfen wird, als eine der wichtigsten Analysekategorien innerhalb der Kulturwissenschaften gelten. Im übrigen gehören gender studies und Kulturwissenschaften eng zusammen. Zahlreiche Ansatzpunkte und Projekte, die von der feministischen Forschung seit über zwanzig Jahren praktiziert werden, wie das Plädoyer für eine interdisziplinär ausgerichtete Germanistik, die Sprengung des traditionellen literarischen Kanons sowie die Verabschiedung des klassischen Kulturbegriffs, gehören zu den grundlegenden Paradigmen der derzeit vielfach favorisierten Disziplin Kulturwissenschaften.

Wie eine verstärkte Einbindung von gender als Analysekategorie in die Kulturwissenschaften funktionieren kann, hat auf vorbildliche Weise das 1995 erschienene und inzwischen zum Standardwerk avancierte Handbuch "Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften" vorgeführt, in dem die Sprachwissenschaftlerin Hadumod Bußmann und die Amerikanistin Renate Hof instruktive Beiträge renommierter Forscherinnen aus den Literatur-, Sprach-, Kunst-, Musik- und Geschichtswissenschaften, der Theologie und der Philosophie herausgegeben haben.

Die Unterscheidung von sex und gender (dem biologischen Geschlecht einerseits und der soziokulturellen Konstruktion von Geschlechtsidentität andererseits), mit der man bis in die neunziger Jahre hinein innerhalb der feministischen Theorie gearbeitet hat, sollte ursprünglich die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß Geschlechterbeziehungen nicht als statisch und als naturgegeben zu verstehen sind, sondern kulturelle Regelsysteme repräsentieren. Von Teresa de Lauretis, Judith Butler und anderen wurde inzwischen Kritik an dieser Unterscheidung formuliert. Die "Voraussetzung eines vordiskursiven' 'biologischen Geschlechts'" reproduziere selbst "einen Machteffekt des Diskurses", meint Butler in ihrem heftig diskutierten Buch "Gender trouble". Die Kategorie sex ist danach letztlich nichts anderes als gender, also ebenfalls ein Produkt sich ständig wiederholender diskursiver Prozesse. Einen "doer behind the deed" gibt es dabei nach Butlers konstruktivistischer Auffassung nicht. Wie aber, so bleibt dann die Frage, ließe sich ohne ein politisches Subjekt - eben "die Frauen" - noch feministische Politik formulieren? - Diese Aporie hat zu heftigen Kontroversen und auch zu Spaltungen innerhalb der feministischen Bewegung und der gender studies geführt und - zumindest bis jetzt - etwa eine produktive Allianz zwischen Feminismus und postmodernen Theorien weitgehend verhindert.

Andererseits trägt die Bewußtmachung der Diskursivierung von Geschlechtsidentitäten auf theoretischer Ebene nicht mehr nur in den USA, sondern zunehmend auch in Deutschland Früchte. Davon zeugen das allgegenwärtige "Unbehagen der Geschlechter" (so der Titel der dt. Übersetzung der bahnbrechenden Studie Judith Butlers), die sogenannte "Krise der Differenz", die Diskussion um das Verschwinden des Körpers, die sich gerade etablierenden queer studies, die die Kategorie gender transzendieren wollen oder Begriffe wie gender variance, der die Konstruktion von mehr als nur zwei sozialen Geschlechter meint und sich der feministischen Ethnologie und deren Beobachtung solcher Kulturen (wie der indigenen Kulturen Nordamerikas) verdankt, in denen das Phänomen des Geschlechterrollenwechsels zum Alltag gehört.

Schon dies zeigt, daß die gender studies eine interdisziplinäre Denkrichtung sind, unter deren Dach sich zahlreiche, ganz unterschiedliche Methoden und Theoreme zusammenfinden und sich aneinander reiben. Der Schwerpunkt "Weiblichkeit und Männlichkeit" dieser Ausgabe von literaturkritik.de ist insofern ein Spiegelbild dieser Heterogenität, als er zum einen Neuerscheinungen rezensiert, die ganz in der Tradition der women's studies verankert sind und allen postmodernen, dekonstruktiven Anfechtungen zum Trotz auf ein "feministisches Subjekt" und damit auch auf politischer Handlungsfähigkeit beharren. Zum anderen aber stellt er auch jene Studien vor, die den Anschluß an die vor allem im anglo-amerikanischen Raum virulente Theoriedebatte suchen. Daneben präsentieren wir die (qualitative) Bandbreite der Versuche, die zwischen men's studies und backlash-Diskurs angesiedelt sind.

Bei der Anordnung der Rezensionen sind wir unter anderem nach theoriehistorischen Gesichtspunkten vorgegangen. Der Rezension zum neuesten Buch der Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen, deren Arbeiten die Anfänge der Frauenforschung an deutschen Universitäten markieren, folgen Überlegungen von Rolf Löchel zum jüngsten Band der Frankfurter Frauenschule. Seit den achtziger Jahren bereichert diese mit ihrer Reihe die Frauenforschung. Vielleicht markiert ihr zu befürchtendes Ende auch die Spaltung zwischen Frauenforschung und gender studies. Von den meisten Theoretiker(inne)n der gender studies werden die Positionen der siebziger Jahre mit ihrem zum Großteil essentialistischen Ansatz, wie sie viele der Vertreterinnen der Frauenschule unbeirrt weiter verfolgen, für problematisch erklärt und mehr oder weniger ignoriert.

Ein großes Verdienst hat sich die Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauenstudien und Frauenforschung an der FU Berlin mit der Etablierung der Metzler-Reihe "Ergebnisse der Frauenforschung" erworben, in der Studien zu literar- und kulturhistorischen Fragestellungen erscheinen. Eine der neueren Arbeiten, von Dorothea Fell, hat Ulla Biernat kommentiert. Ein ebenfalls im Metzler Verlag erschienenes, aus der Literaturwissenschaft nicht mehr wegzudenkendes Standardwerk, die "FrauenLiteraturGeschichte", wurde von den Herausgeberinnen, der Kölner Film- und Fernsehwissenschaftlerin Renate Möhrmann und der Literaturwissenschaftlerin Hiltrud Gnüg, neu bearbeitet und dabei vor allem den neueren theoretischen Standards und Interessenschwerpunkten angepaßt. Mit der Neubearbeitung ist es gelungen, einen breitgefächerten Bogen von der Frauenforschung bis hin zu den neueren Gendertheorien zu ziehen. Den
unmittelbaren Anschluß an die Diskussion um konstruktivistische Erklärungsansätze des Körpers, der Sexualität und des Geschlechts sucht auch Barbara Rendtorff, die mit ihrer Theorie zur "symbolischen Kastration" des Weiblichen eine "Rückeroberung der Differenz" jenseits essentialistischer Vorgaben einfordert und damit bereits für produktive Diskussionsansätze gesorgt hat. Ihre neueste Studie, die diesen Ansatz weiter verfolgt, hat Rolf Löchel unter die Lupe genommen.

Seit Jahren findet zunehmend auch im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von Symposien zu Themenkomplexen aus dem Bereich der gender studies statt, für die die Mannheimer Tagung "Keine Angst vor Virginia Woolf" im Sommer 1997 nur ein Beispiel ist. Die Ergebnisse sind nun in einem Sammelband erschienen, der verschiedene Wege vorstellt, geschlechtertheoretische Ansätze in die literatur- und sprachwissenschaftliche Arbeit zu integrieren.

Über eine interessante Studie zur Konstruktion von Männlichkeit über "Blut und Worte" hat die Bamberger Mediävistik-Professorin Ingrid Bennewitz, die selbst im März 1999 zusammen mit der Berliner Mediävistin Ingrid Kasten eine aufschlußreiche Gender-Tagung zum Thema "Mediävistik nach Butler und Laquer" veranstaltet hat, eine Rezension beigesteuert. Diese Studie, die in der renommierten und verdienstvollen Reihe "Gender Studies" bei Suhrkamp erschienen ist, setzt nach dem vieldiskutierten Buch "Fragmentierung und Erlösung" von Carolyn Walker Bynum die Erweiterung dieser Reihe um Beiträge aus dem Bereich der mittelalterlichen Geschichte fort. Die Studie hätte allerdings, so Bennewitz, noch mehr an Brisanz gewonnen, hätte sie die Erkenntnisse der aktuellen men's studies berücksichtigt. Ähnliches gilt wohl für die Arbeit über Hans Henny Jahnn in der von Inge Stephan und Sigrid Weigel beim Böhlau-Verlag herausgegebenen Reihe "Geschlecht - Kultur -Geschichte". Sie wird dem Anspruch der angesehenen Reihe nach Meinung von Thomas Anz nicht ganz gerecht. Wenig erfährt man, Rolf Löchel zufolge, auch aus Eldreds "Phänomenologie der Männlichkeit" über die tatsächlich stattfindenden Gender-Diskurse. Die Studie zementiert eher alte Geschlechterstereotype und ignoriert Erkenntnisse der aktuellen Männlichkeitsstudien, wie sie etwa der von Walter Erhart und Britta Herrmann herausgegebene Sammelband "Wann ist der Mann ein Mann" (Stuttgart 1997) präsentiert. Ein noch prägnanteres Beispiel für den Rückfall in alte Muster bzw. den antifeministischen Diskurs hat Katharina Rutschky geliefert, die in den letzten Jahren vor allem mit ihrer 'Mißbrauch des Mißbrauchs'-These nicht nur die Fachwelt provozierte. Dagegen ist ihr neuestes Buch vergleichsweise harmlos, wie Thomas Bollwerk feststellt. Es darf jedoch als beispielhaft für derzeit wieder virulent gewordene Tendenzen gesehen werden, das Etikett "Feministin" eher abschätzig zu verwenden. Sie sind sicherlich u.a. psychologisch erklärbare Reaktionen auf die zunehmende Verankerung der gender studies auch im deutschsprachigen Raum, die nach Ansicht der Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken zum entscheidenden Paradigmenwechsel geführt hat: "Gender Studies haben [...] das Feld der Humanities in den Methoden und in der Sicht der Gegenstände grundlegend umgekrempelt. 'Reading Otherwise' ist mittlerweile kein frommer Wunsch mehr, sondern breite Praxis. Gender studies sind nicht mehr marginal, sondern markt- und diskussionsbeherrschend. Aus der Literaturwissenschaft ist das Paradigma der Differenz der Geschlechter nicht mehr wegzudenken."

Davon soll auch der Schwerpunkt dieser Ausgabe zeugen, sicherlich nicht der letzte zu diesem Themenkomplex. Bis dahin wünschen wir allen Leserinnen und Lesern, Internetsurferinnen und -surfern, den Cyborgs und all den anderen Netzgeistern eine anregende (Geschlechter-)Lektüre und viel (selbst-)ironischen Biß beim Austragen aller noch anstehenden gender troubles.

Christine Kanz