Gelungene Experimente

Der Abschlussband der gesammelten Werke von Peter Härtling

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Abschlussband der bei Kiepenheuer und Witsch erschienenen gesammelten Werke Peter Härtlings befinden sich, chronologisch geordnet, alle Erzählungen und Vorlesungen des Autors, zudem die Aufsätze, in denen Härtling "prinzipielle Überlegungen" zur Literatur (seiner Literatur) anstellt. Nicht enthalten sind jene Texte Härtlings, die der Herausgeber als journalistisch einstufte, seine politischen Schriften und die Aufsätze zur Kinderliteratur.

In den Erzählungen fällt auf, wie viel Mühe sich Härtling gibt, immer wieder den eigenen Weg nachzuzeichnen, Erfahrungen aus der Kindheit in Literatur zu überführen, eigene Entscheidungen literarischer oder persönlicher Art plausibel zu machen, die Argumente von damals zu verinnerlichen, sich zu erinnern. Überhaupt Erinnerungen. Zum Beispiel an Dresden, so wie es war, als der junge Härtling es kennenlernte, und so, wie es noch früher war, vor dem Zweiten Weltkrieg, der einen entscheidenden Einschnitt ins Leben des Ende 1933 Geborenen markierte. Es vermischen sich ferne und nähere Vergangenheit, und immer wieder kontempliert Härtling die Unmöglichkeit der Erinnerung. Nichts ist festhaltbar, nicht einmal im gemeinsamen Nachdenken über das Vergangene, denn alles Denken ist persönlich, kann nicht mitgeteilt, schon gar nicht geteilt werden.

Immer wieder formuliert Härtling jedoch auch Aufbegehren gegen das Vergessen, das Verschweigen, das Einfach-Weiterleben der Menschen nach dem Krieg, als sei nichts geschehen, so zum Beispiel die Erzählung für Franz Kafkas Schwester "Für Ottla", für eine der Vergessenen. Und er versucht Andenken zu schaffen für diejenigen, die ihm Hilfe leisteten, so der Pfarrer aus Nürtingen, der für den Jungen da war, als dieser ihn brauchte und auch dessen Zweifel an Gott und der Welt ertrug, und für diejenigen, denen er als Junge keine Hilfe leistete, die "tschechische Verwandtschaft".

Zwischendurch das, was der Herausgeber Klaus Siblewski als "gelungene Experimente" bezeichnet. Erzählungen, Skizzen, die auf einen späteren Roman Härtlings hinweisen oder hinführen. Geschichten, die Motive behandeln, die der Autor zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Romanform bringen konnte oder wollte. Stoffe, die noch nicht Literatur werden sollten, die jedoch in diesen die Gattungsgrenzen sprengenden, zwischen Erzählung und Argumentation wechselnden Texten ersten Ausdruck finden konnten.

Auch in den Aufsätzen beschäftigt sich der Autor häufig mit der Rolle der Literatur als Erinnerungshilfe der Menschheit, zum Beispiel an ihre Aufgabe, auch an die ,Kleinen' zu erinnern, an diejenigen, die Teil der Schlacht waren und sie nicht auf einer Karte planten und Lob oder Tadel für ihren Ausgang erhielten. Gleichzeitig weist Härtling jedoch auch auf die Grenzen des Wortes hin, so auch auf dessen Unfähigkeit, Revolutionen auszulösen. Wie Härtling meint, kann Literatur nur auf- und nachzeichnen, was geschieht, trägt lediglich hinterher, geht niemals voraus. So setzt sich der Autor mit seiner eigenen Rolle in der Gesellschaft auseinander. Wo soll er stehen? Wie sollte er schreiben?

Dabei sind viele von Härtlings Theorien erfreulich persönlich, entwickeln nicht den Anspruch, unabdingbar und allgemeingültig zu sein. Seine Ansichten werden dem Leser zur Ansicht und zum Nachdenken vorgelegt, eine Meinung bilden kann er sich selbst. Ebenso sind die Vorlesungen, die Härtling in Frankfurt und Salzburg hielt und in denen er Bilder der Entstehung einer Idee entwirft - eben nur das: Entwürfe, Denkanstöße, ein Anfang, zu dem der Zuhörer oder eben (in diesem Fall der Leser) ein Ende finden muss, ein Ende, das für jeden ein anderes sein kann.

So ist der letzte Band dieser Härtling-Ausgabe, wie auch der Herausgeber in seinem Nachwort feststellt, gleichsam Nachsatz und Kommentar zu Härtlings Gesamtwerk. Der Leser kann Härtlings Entwicklung als Schriftsteller auch an diesen kurzen Stücken festhalten, und die Erzählungen als eine Art Schlüssel zu den Romanen des Autors sehen, indem er sich mit dem Schriftsteller tastend an das Thema heranwagt, ihm langsam auf seinem Weg von der Idee zum fertigen Werk folgt.

Titelbild

Peter Härtling: Gesammelte Werke. Erzählungen, Aufsätze, Vorlesungen.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000.
752 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3462028839

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