Mysterien der Mathematik und Kämpfe mit sich selbst

Apostolos Doxiadis' Erfolgsroman "Onkel Petros und die Goldbachsche Vermutung"

Von Silke SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silke Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Andrew Wiles hat es geschafft, Onkel Petros nicht. Es ist ein hartes Geschäft: "Mathematicus nascitur non fit" - zum Mathematiker wird man geboren, nicht gemacht. Es gibt drei berühmte Probleme der Zahlentheorie: Die Fermatsche, die Riemannsche und die Goldbachsche Vermutung. Die Fermatsche Vermutung löste Andrew Wiles 1997 - er ging damit als Weltklasse-Mathematiker in die Geschichte ein. Die Goldbachsche Vermutung (,jede gerade Zahl größer als zwei ist die Summe zweier Primzahlen') konnte bislang nicht bewiesen werden. Seit zweihundertfünfzig Jahren. Onkel Petros in dem Roman von Apostolos Doxiadis hat sein ganzes Leben dieser Vermutung gewidmet, seinen Verstand eingebüßt, doch seinen Stolz behalten:

"Ich, Petros Papachristos, der nie etwas wirklich Bedeutendes veröffentlicht hat, werde in die Geschichte der Mathematik eingehen - oder genauer gesagt werde nicht eingehen - als jemand, der nichts erreicht hat. Aber damit kann ich gut leben. Ich bedaure wirklich nichts. Mittelmäßigkeit hätte mich nie befriedigt, mir nie gereicht. Mir sind heute meine Blumen, mein Obstgarten, mein Schachbrett, ja auch die Unterhaltungen mit dir viel wichtiger als ein Trostpreis - oder eine Art Fußnotenunsterblichkeit. Dann bleibe ich lieber anonym."

Einst galt Onkel Petros als Wunderkind. Schon früh wurde seine mathematische Begabung festgestellt und gefördert. Mit neunzehn machte er sein Diplom, mit vierundzwanzig wurde er zum ordentlichen Professor an die Universität München berufen und arbeitete mit angesehen Zahlentheoretikern wie J. E Littlewood und G. H. Hardy zusammen. Er verliebte sich, wurde von seiner Liebsten verlassen und entschloss sich aufgrund dieser schmerzlichen Erfahrung berühmt zu werden. Ein Weltklasse-Mathematiker. Er wollte sich dazugesellen: Euklid, Archimedes, Newton, Gauß, Euler... und Petros Papachristos? Er fragt: "Welches ist das schwierigste Problem der Mathematik, Herr Professor?" Er war von sich überzeugt und musste trotzdem scheitern. Ein Leben, ein Phänomen, keine Lösung. Vergeudete Lebenszeit?

Der Autor hat einiges mit seiner Romanfigur gemeinsam. Apostolos Doxiadis wurde mit fünfzehn an der Columbia University als Mathematikstudent aufgenommen. Ein Mathegenie. Später widmete er sich dem Theater und übersetzte Shakespeares "Hamlet", "Romeo und Julia" und O'Neills "Mourning Becomes Electra" aus dem Englischen ins Griechische. 1988 wurde er für seinen Film "Terirem" auf der Berlinale ausgezeichnet, und auch als Schriftsteller ist er erfolgreich. 1992 ist "Onkel Petros und die Goldbachsche Vermutung" in Griechenland erschienen. Bislang wurde der Roman in siebzehn Sprachen übersetzt - vom Autor selbst ins Englische. Er würde sein Werk mit den Worten von Samuel Becket charakterisieren: "I'll can't go on. I'll go on."

Mathematik blieb seine Leidenschaft - ohne Zweifel. Doch bietet sie in diesem Roman nur den Rahmen - sie ist austauschbar. Bedeutender ist die Darstellung der Angst vor dem Versagen, die verbissene Sucht nach Triumph und Ruhm: "Ein sehr guter Mathematiker wäre ich vielleicht geworden, aber niemals ein großer. Ich habe zwei wichtige Theoreme entdeckt, aber das ist auch schon alles."

Die Gedanken des Onkel Petros werden vom Ehrgeiz diktiert und seine Handlungen kennen nur ein Ziel: den Beweis der Goldbachschen Vermutung. Er wird zum Einzelgänger und pflegt keinerlei soziale Kontakte - sie halten ihn nur auf, lenken ihn ab; sie sind ihm schlicht zuwider. Selbst der Kontakt zu seiner Familie ist ihm gleichgültig. Sein Vater glaubt an ihn - seine beiden Brüder hassen ihn. Nach Petros Misserfolgen ist er für sie der absolute Versager. Der Familienehre wegen müssen sie ihn trotz allem finanziell unterstützen. Ihre Meinung geben sie erfolgreich an ihre Kinder weiter. Nur Onkel Petros "wertester Neffe" will das nicht glauben. Deshalb erzählt er diese Geschichte - die Geschichte seines persönlichen Helden.

Doxiadis erzählt in einer minimalistischen Sprache: sparsam und gerade dadurch ungemein fesselnd. Selbst Leser, die von Mathematik wenig verstehen, finden Gefallen an ihren Mysterien. Doxiadis belehrt nicht, sondern schafft eine sinnliche, gelegentlich auch Schaudern erregende Vorstellung von Zahlen:

"Er träumte von 2 hoch hundert (eine enorm hohe Zahl), die als zwei eineiige, sommersprossige Mädchen mit wunderschönen dunklen Augen erschien. Die jungen Damen sahen ihm direkt in die Augen. Diese Mal aber war nicht nur Traurigkeit in Ihrem Blick, wie er es von früheren Auftritten der geraden Zahlen kannte, sondern jetzt stand Zorn, ja sogar Hass in ihren Augen. Nachdem sie ihn sehr, sehr lange angestarrt hatten [...] bewegte eine der Damen plötzlich ruckartig und schroff den Kopf von einer Seite zur anderen. Danach verzog sie ihren Mund zu einem grausamen Lächeln. Es drückte eine Grausamkeit aus, die man gewöhnlich nur bei abgewiesenen Geliebten findet. ,Du wirst uns niemals schnappen' zischte sie."

Der etwas reizlose Titel sollte nicht abschrecken. Er verrät wenig von dem, worum es vor allem geht: um einen Kampf mit sich selbst, der längst verloren scheint. Vielleicht hat Onkel Petros Neffe Recht, wenn er seinen Onkel in höchster Bewunderung mit den Versen eines Gedichtes von Constantine Cavafy vergleicht und dem griechischen Kämpfer Leonides gleichsetzt: "Aber größte Ehre gebühret denen, die voraussehen, und viele sehen es tatsächlich voraus, dass eines Tages Ephialtes, der Verräter, erscheinen wird und so die Perser schließlich die Meerenge überqueren."

Titelbild

Apostolos Doxiadis: Onkel Petros und die Goldbachsche Vermutung. Roman.
Übersetzt aus dem Griechischen von Maren Radbruch.
Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 2001.
223 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 378570951X

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