Sie hatte keine Sehnsucht mehr

Marlene Streeruwitz' "Verführungen"

Von Sabine HarenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Harenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Verführungen. 3. Folge Frauenjahre" - nach Umberto Eco soll der Titel eines Buches die Fantasie anregen. Es scheint, als würde der Titel von Marlene Streeruwitz´ erstem Prosatext eben dieser Aufforderung entsprechen. Seine Komplexität und Mehrdeutigkeit verführen dazu, eigene Vorstellungen und Erwartungen zu entwickeln. Neben vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten ist der Titel sexuell konnotiert und weist auf die primäre Rolle von Erotik und Sexualität im Text hin.

Streeruwitz beschreibt den Alltag der dreißigjährigen Helene Gebhardt, die als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern in Wien lebt. Immer müde und "ins Leben gepreßt" taumelt Helene zwischen Haus, Büro und Liebhabern hin und her. Durch Ein-Wort-Sätze, eine parataktische Syntax und grammatikalisch unvollständige Sätze wirkt der Text passagenweise wie ein Stammeln. Für Rita Endres stellt "dieses Stakkato der kurzen Sätze" den Versuch dar, "die beschädigte Chronik eines beschädigten Lebens" (Streeruwitz) auch auf der sprachlichen Ebene zu vermitteln. Der Punkt hat aber nicht ausschließlich die Funktion, Sätze zu trennen, sondern soll ebenso die Verbindung zwischen Schweigen und Sprechen herstellen. Denn sowohl im Text selbst als auch im Leben der Protagonistin "muß [es] ja weitergehen nach der Stockung. Nur nicht zurückfallen in eine Lähmung".

Die Protagonistin Helene Gebhardt versucht immer wieder, dem zermürbenden Alltag zu entfliehen, um ihre individuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Streeruwitz´ Prosatext repräsentiert die veränderte Frauen- und Mutterrolle in der Literatur. Zum einen wird die Protagonistin als stark geforderte Mutter gezeigt, zum anderen als sexuell aktive Frau. Der Text zeige weder ein "hehres Mutterglück", so Renate Möhrmann, noch ein problemloses Sexualleben, sondern versuche vielmehr, ein "authentisches Zeugnis mütterlicher Existenz" zu vermitteln. Auch der bewußt eingesetzte Gleichklang des Erzählens spiegelt diese Integration beider Rollen wider. Auf der Ebene des Erzählens ist kein Unterschied festzustellen, ob Helene zum Beispiel onaniert oder das Abendessen für die Kinder zubereitet: "Helene machte den Kindern das Abendessen und überwachte das Zähneputzen und Baden", "Helene kochte Spaghettisauce. Das Lieblingsessen der Kinder", "Helene versuchte, sich einen der Helden nackt vorzustellen. Sie griff sich zwischen die Beine. Sie drehte sich die Schamhaare um den Zeigefinger. Sie ließ den Mittelfinger weitergleiten." Helenes Sehnsucht nach dem erlösenden Märchenprinzen, nach einer zuverlässigen Beziehung und einer erfüllten Sexualität ist für ein Weiterleben konstitutiv und notwendig. Ihre reale Beziehung zu ihrem Liebhaber Henryk und ihr reales Erleben von Sexualität sind diesen Sehnsüchten diametral entgegengesetzt: "Dann saß sie plötzlich auf dem Bettrand und fiel in die Arme des Schweden. Sie sah sich selbst sich zu ihm beugen. Von ihm gezogen. Ihre Lippen auf seinen. Die Beine auf das Bett heben und neben ihm liegen. Langsam. Verlangsamt. Während des langen Hinsinkens dachte sie, wie sie ihm nun nichts erklärt hatte. Sie setzte zum Reden an. Hob den Kopf. Holt Luft. Henryk zog ihren Kopf wieder zu sich und küßte sie. Helene begann die Ostertorte gegen halb 2 in der Nacht zu glasieren. Sie war verweint."

Die Textkomposition ist an einigen Stellen vergleichbar mit der filmischen Montage, die es ermöglicht, durch Schnitte Zeit zu raffen oder den Raum zu wechseln. So bleibt in der zitierten Textstelle der Zeitsprung erzählerisch unkommentiert. Trotzdem ist diese Nullposition im zeitlichen Ablauf der Geschichte rekonstruierbar. Die Auslassung fällt an dieser Stelle mit einem drucktechnischen Einschnitt zusammen: sie erscheint optisch-visuell als weiße Lücke im Text und steht für die sexuelle Begegnung zwischen Helene und ihrem Liebhaber Henryk. Der offenbar nicht befriedigende Sexualverkehr wird nicht gezeigt, kann aber erschlossen werden. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, warum der Erzähdiskurs unterbrochen wird. In einem Interview bemerkt Marlene Streeruwitz, daß "die politische Reaktion auf Ohnmacht [...] Schweigen" sei. Einige Aussagen lassen erkennen, wie enttäuschend und verwirrend für Helene die sexuelle Begegnung mit Henryk gewesen sein muß:

"Sie hatte danach geweint. [...] Sie hatte geheult. [...] Die Oberschenkel innen waren wund von seinen Hüftknochen. [...] Es war alles ein Chaos an Gliedmaßen. Körperflächen. Haut gegen Haut. Drinnen haben. Sie war erschöpft und leer."

Erst im Nachhinein wird der Versuch gewagt, Helenes Zustand nach dem Treffen mit Henryk zu beschreiben. Eine direkte Darstellung der Situation scheint unmöglich. So kann vermutet werden, daß die Ellipse als erzähltechnische Lösung dem Unsagbaren einen Rahmen verleiht und es auf diese Weise sprach-los sichtbar gemacht werden kann.

Die wenigen für Helene lustvoll erlebten sexuellen Begegnungen ereignen sich außerhalb Wiens, finden also außerhalb von Helenes Alltagswelt statt:

"Sie wandten sich einander zu. Rollten einander in die Arme. Helene kannte Henryk mittlerweile gut. Wußte wo sie streicheln mußte. Um kleine hastige Atemzüge auszulösen. Und wo, um tiefe. Sie wußte, wie sein Schwanz sich angriff. Wie es sich anfühlte, die Hand um ihn zu schließen. Wie seine Härte pulsierte. Und ihn in sich gleiten spüren. Und nichts mehr wissen konnte. Nur noch dort existierte. Unten weit weg. Aber sie. Henryk legte seine Hand über ihren Mund. Sie konnte sich nicht erinnern, geschrien zu haben."

Außerhalb Wiens kann Helene Momente sinnlicher Qualität erleben, sie - vom Alltag losgelöst - überhaupt erst zulassen; allerdings beschränken sie sich nicht ausschließlich auf sexuelle Erlebnisse. "Der Kaffee schmeckte wunderbar. Sie hatte das Gefühl, wenn sie den Mund eine wenig offenstehen ließ, würde man es vor Glück glucksen hören."

Marlene Streeruwitz´ Prosatext "Verführungen" läßt sich nicht einfach dem Genre "Erotische Literatur" subsumieren. Der bereits erwähnte, durchgängig beibehaltene Gleichklang des Erzählens scheint ein Hinweis darauf zu sein, daß der Text keine erotisierende Wirkung auf die Leser ausüben will. Es wäre aber auch verfehlt, "Verführungen" als anti-erotische Literatur zu charakterisieren, weil der Text nicht jede Form von Erotik verneint. Es finden sich Ansätze erotischer Momente, die jedoch sofort aufgehoben und wieder zerstört werden. Diese Zerstörung spiegelt sich auch in der Syntax wider. So zeigt sich, daß durch die deutlich beschädigte Sprache auch auf der Ebene des Erzählens Helenes beschädigte Sexualität zum Ausdruck gebracht wird. Das Bewußtsein dieser Beschädigung in Verbindung mit einer grundlegenden Sehnsucht nach mehr als nur einer erfüllten Sexualität evoziert in der Protagonistin unlösbare Widersprüche, die sie immer wieder fast am Leben verzweifeln lassen: "Sie hatte keine Sehnsucht mehr. Nicht einmal danach. Es machte sie traurig. Zermürbt, dachte sie. Bist Du endlich zermürbt."

Titelbild

Marlene Streeruwitz: Verführungen. 3. Folge: Frauenjahre. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1996.
295 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3518407511

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