Abgewandte Areale

Wolfgang Hilbigs Gedichtband "Bilder vom Erzählen"

Von Stefan WieczorekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Wieczorek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der letzte eigenständige Lyrikband von Wolfgang Hilbig liegt fünfzehn Jahre zurück. Bevor sich Wolfgang Hilbig mit seinen ambitionierten Prosatexten als einer der überraschendsten deutschsprachigen Erzähler etablierte, erregte 1979 sein Lyrik-Debüt "abwesenheit" Aufsehen und Bewunderung. Einige Jahre später folgte "die versprengung". Zum 60. Geburtstag Hilbigs hat der S.Fischer Verlag nun einen bibliophil gestalteten Gedichtband herausgebracht - mit Radierungen von Horst Hussel. Die Gedichte stammen vornehmlich aus den Jahren 1998 bis 2001.

Wolfgang Hilbig ist ein Dichter, für den der Weg zum Text über die Referenzerweisung an wahlverwandte dichterische Stimmen führt. Die Reflexion der eigenen Voraussetzungen mündet im Text und wird in ihm fortgeführt. Der andere Text ist dabei die wahlverwandte Stimme. Sie befreit das eigene singuläre Sprechen, indem sie einen Kontext bildet, ein Referenzsystem, und bedroht es zugleich, wenn der andere Text zur Vorlage wird, wenn in ihm schon alles gesagt scheint. In den frühen Gedichtbänden Hilbigs spricht das lyrische Ich von einer Position aus, die durch die Erfahrung des eigenen Ichs als etwas Krisenhaftes bestimmt wird, durch eine fiebrig-obsessive Wirklichkeitswahrnehmung: Sie spricht von Sprach- und Schreibzweifeln. Positionslichter, die auch für "Bilder vom Erzählen" noch gültig sind:

"Immer weniger habe ich die Dinge beherrscht die mein Leben ausmachen: Werkzeuge Papiere Bücher... zwischen kreisenden Inseln aus Schaum über - scheinbar über mir - treiben sie fort aus der Nacht die Trümmer meines banalen Universums."

Die Wirklichkeitswahrnehmung begründete die Differenzqualität von Hilbigs Lyrik, denn die Sättigung der Texte mit sozialer und kommunikativer Realität erlaubte das Zurückfallen, das Ausruhen im Gleichklang mit dem wahlverwandten Text allenfalls für wenige Verse. Das Gedicht wurde damit gleichsam zur Analyse der Differenzen zwischen den historischen Erfahrungen der Schreibenden. Durch die widerstrebende Tektonik - derjenigen der lyrischen Wahlverwandtschaft und derjenigen der Jetzt-Zeit - entstanden Risse im Text, die unverbrauchte Perspektiven möglich machten.

Diese Grundspannung ist verschwunden. Die Texte in "Bilder vom Erzählen" erkunden Traumareale: stetig wiederkehrendes Motiv der Gedichte ist der Traum. Dessen Gegenstück sind die Schlaflosigkeit und ihre alpdrückenden Bilder, nicht mehr die Realität. Der Traum löst die Bewusstseinsebenen des lyrischen Ichs auf, die Gegenstände ändern ihren Aggregatzustand, werden flüssig oder durchlässig. Das lyrische Ich ist letztlich haltlos, "und von mir blieb ein träumend Salz von dem die Welle / einatmend sich zurückzieht: ausatmend wiederkehrt." Der Traumsog als Beschleunigungsfaktor des Textes ist bislang weniger aus Hilbigs Lyrik als aus seiner Prosa bekannt. In einem kürzlich geführten Gespräch für den "Tagesspiegel" hebt Hilbig hervor, wie sehr ihn die Formen in diesem Band gereizt haben, Formen, die zwischen Prosa und Gedicht angesiedelt sind. Allerdings geht in Hilbigs Prosa der Text in diesem Traumsog nicht auf. Auch wenn zentralperspektivische Romanwelten nicht mehr möglich sind, versuchen die Figuren sich doch in ihrer (Teil-)Erzählung zu behaupten, obwohl die Vorstellung vom machbaren Leben längst obsolet ist. Die Referenz auf Realität als Bezugssystem wird hingegen in "Bilder vom Erzählen" weitgehend aufgehoben. Wie in keinem anderen Gedichtband Hilbigs reduziert sich daher der Abstand zum zweiten Bezugssystem, dem der Lyrik-Tradition.

Die Texte bleiben auf Distanz, da man ihre Zeitgenossenschaft kaum noch spürt. Der Dichter in dürftiger Zeit - "Ihr rieft mich zu spät in den heiligen Hain" - wird weniger erkundet als zelebriert, im Klagelied und im Selbstporträt. Der Dichter scheint abermals der traumblinde Seher zu sein, prophetisch strebt er nach dem Überzeitlichen: "Die Brunnen am Rand der Wüste sind mein Ziel. Die Tempelstätten die geborstenen Wälder der Säulen sind mein Ziel. Denn dort habe ich mein Ziel verloren in namenloser Vorzeit. Dort ehe die Nacht fiel war ich der Aufschrei Gottes in der Wüste. Und ich war der Fittich Gottes im Staub am Rand der Brunnen. Und ich war die Klage der Brunnen in der Dürre und in der Finsternis."

In "Bilder vom Erzählen" wird die Regression vom Aktuellen ins Überzeitliche, vom Kontingenten ins Sinnbildliche und vom Banalen ins Schöne erprobt. Hilbig gibt dazu die konsequente Kleinschreibung der früheren Gedichtbände auf, dafür fallen Endreim und schlichter alternierender Rhythmus auf. Es gelingt ihm aus dieser Position heraus, Gedichte zu verfassen, die man quasi als Nachlieferung in die Literaturgeschichte einlegen möchte. Doch sind es sich entfernende Texte, entstanden aus fortschreitender "versprengung" in abgewandte Areale.

Titelbild

Wolfgang Hilbig: Bilder vom Erzählen. Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
64 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-10: 3100336259

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