Mit Faust durch die Zeit reisen

Der interdisziplinäre Forschungsband "Goethe und die Verzeitlichung der Natur"

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Nach meinem Urteil handelt es sich um die beste Goethe-Einführung und die überlegenste Goethe-Interpretation, die zur Zeit greifbar sind, zudem in erfreulich konziser Form." Mit dieser markigen Äußerung schmückt Manfred Windfuhr sein Nachwort zu dem aus dem Nachlaß herausgegebenen Band des verdienten Goethe-Forschers Friedrich Sengle: "Kontinuität und Wandlung. Einführung in Goethes Leben und Werk". Das Buch ist die wortgetreue Wiedergabe eines Vorlesungsmanuskriptes, das durch mehrfache Überarbeitung im Laufe von Sengles Universitätslaufbahn eine recht gediegene Form erhalten hatte - so gediegen jedenfalls, daß man es wagen konnte, es ohne jede Veränderung und ohne jedes Eingreifen seitens der Herausgeber zu publizieren. Ob das eine kluge Entscheidung war, muß dahingestellt bleiben: einerseits besitzt man nun einen authentischen, ja nahezu kritisch edierten Vorlesungstext, andererseits muß man mit einem Textstand leben, der - wie sollte es bei einem Vorlesungsmanuskript anders sein - immer noch etwas Improvisiertes, Vorläufiges, Oberflächliches an sich hat. Auch möchte und muß der Dozent in der Vorlesung gefallen - was wohl noch den stärksten und integersten Charakter dazu verführt, um der Pointe willen zu stilisieren und zu übertreiben. Das heißt: anders als bei den von ihm selbst vorbereiteten und betreuten Publikationen ist auf die Korrektheit der Daten und literarhistorischen Wertungen Sengles hier nicht immer verlaß. Ganz abgesehen davon, daß der bisweilen bemüht aufgelockerte Tonfall der Vorlesung beim Lesen doch entschieden anstrengt. So baut Sengle die folgenden schmissigen Sätze über die ersten Weimarer Jahre, in denen Goethe versucht habe, einen Sturm und Drang durchzusetzen: "Es war zunächst ein ewiges Jagen und Tollen am Hof, eine richtige Jugendbewegung. Alles was über dreißig war, wurde an die Wand gedrückt und als vergreist behandelt. [...] Aber bald hagelte es von allen Seiten Beschwerden." Seine Studenten werden es ihm gedankt haben, seine heutigen Leser dagegen fühlen sich nicht ganz ernst genommen.

Gehalten hat Sengle die, wie es heißt, sehr erfolgreiche Vorlesung zum erstenmal 1968/69, um sie dann noch einmal in den Wintersemestern 1973/74 und 1976/77 zu halten. Dies ist denn auch der Forschungsstand, den der Text wiedergibt. Dementsprechend ist, abgesehen von Sengles eigenen Publikationen, Gerhart Baumanns Goethe-Buch "Dauer im Wechsel" von 1977 die neueste Literatur, die in der Einführung zu Rate gezogen bzw. diskutiert wird. Das aber schlägt sich vor allem in der Herangehensweise, der literaturwissenschaftlichen Methodik nieder. So legt Sengle großes Gewicht auf die Persönlichkeit Goethes: auf Strukturierungen, "die den literaturwissenschaftlichen Beschreibungshorizont überschreiten und eher in die Anthropologie gehören", wie Manfred Windfuhr zu Recht erkennt. Nur sieht er darin einen "wegweisenden" Vorzug von Sengles Text, denn letztlich komme es "bei einem so komplexen Phänomen darauf an, ob man die richtigen Kategorien für den Menschen Goethe einzuführen" wisse Das wird Windfuhr heutzutage niemand mehr abnehmen, selbst wenn es um eine Einführung "in Goethes Leben und Werk" geht.

Auch wenn es sich hier also keinesfalls um die "überlegenste Goethe-Interpretation" handelt, kann Sengle dem Leser als Deuter Goethes dennoch sympathisch werden. Viele seiner Überlegungen sind angenehm nüchtern und folgen nicht zwanghaft einem übergeordneten Strukturschema, wie etwa in dem neu aufgelegten Buch "Dauer im Wechsel" von Gerhart Baumann. Zu ihrer Zeit mag die nun mehr als zwanzig Jahre alte Studie die Goethe-Forschung noch inspiriert haben - heute liest sie sich wie die endlose und deshalb auch endlos langweilige Umschreibung der einen, titelspendenden Aussage von der Einheit und Ganzheit der facettenreichen Dichtergestalt. Auf nahezu jeder Seite des Buches findet sich ein Satz wie der folgende, der jargonhaft und inhaltsleer stets das eine wiederholt: "So viele Existenzmöglichkeiten und Glaubenslehren er anspricht, so verliert er sich dennoch nicht im Vielgestaltigen, in verwirrenden Lehren und Überzeugungen, so vielfältige Wechsel er auch vollzieht und bewußt erleidet, so unverwechselbar erhält er sich." Daß vor allem Goethe immer wieder solch eine Wissenschaftssprache provoziert hat, wird man ihm nicht anlasten wollen. Ihm kann es jedoch nur recht sein, daß er als Thema zwar andauert, die Methoden seiner Erforschung aber doch ständig dem Wechsel ausgesetzt sind.

Titelbild

Peter Matussek (Hg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur.
Verlag C.H.Beck, München 1998.
571 Seiten, 70,60 EUR.
ISBN-10: 3406440592

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