Sanktion Sektion

Karin Stukenbrock untersucht die Sozialgeschichte der anatomischen Sektion in der Frühen Neuzeit

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vermutlich werden nicht wenige Zeitgenossen bei der Vorstellung, posthum auf dem Seziertisch eines Pathologen zu landen, von einem gewissen Unbehagen beschlichen. Da mag es kaum überraschen, dass sich die allermeisten Menschen in der Frühen Neuzeit (1650 - 1800) sehr dagegen sträubten, dass ihre Leiche seziert würde. Der Frage, warum das so war, ist Karin Stukenbrock in ihrer Dissertation "Der zerstückte Cörper" nachgegangen. Zu ihrer Beantwortung hat sich die Autorin tief in diverse Gerichts- und Universitätsakten sowie andere Archivalien eingegraben und dabei so manche beachtlichen Ergebnisse zu Tage gefördert. So hat sie als einen der Gründe für die starke Ablehnung der Sektion weniger religiöse Überzeugungen ausfindig gemacht, als vielmehr das ausgeprägte Schamgefühl der Menschen, das umso stärker betroffen war, "als der eigene Körper kaum jemals so offen für das Auge des Betrachters zugänglich war" wie bei der Sektion, "und zwar der gesamte Körper einschließlich der Genitalien".

Im 17. Jahrhundert beschränkten sich die an die Obrigkeit gerichteten Bitten der Mediziner daher notgedrungen darauf, die Körper von Hingerichteten zur Verfügung gestellt zu bekommen. Da in der seinerzeitigen Strafpraxis die Art der Hinrichtung (Köpfen oder das ehrenrührigere Erhängen) ebenso zur Strafe gehörte wie das, was nach deren Vollzug mit dem toten Körper geschah, kam es vor, dass die Anatomen mit unvollständigen Leichen vorlieb nehmen mussten. So berichtet die Autorin etwa von der Leiche einer hingerichteten "Kindsmörderin", die einer Universität "ohne den auf den Pfahl kommenden Kopf und die an denselben zu nagelnde Hand" geliefert worden war.

Mit Beginn des 18. Jahrhunderts wurden neben den Exekutierten zunächst auch die Leichen von Suizidanten herangezogen, was nach dem damaligen Verständnis im Grunde allerdings keine Erweiterung der Sektionsobjekte darstellte. Da die so zu erreichende Anzahl immer noch unzureichend war, kamen bald auch "Todgefundene und Verunglückte" sowie "in Zuchthäusern Verstorbene" auf den Seziertisch, falls für deren Begräbnis niemand aufkam. Und schließlich wurden überhaupt "die abgestorbenen Leiber derer gantz armen und nothdürfftigen" herangezogen. Anders als bei den Hingerichteten und Suizidanten war in all diesen Fällen den Angehörigen die Möglichkeit gegeben, die Sektion zu verhindern, indem sie das Geld für eine Beerdigung aufbrachten. Auch versuchten zahlreiche Betroffene dadurch der Sektion zu entgehen, dass sie alles daransetzten, die Kosten für ihr Begräbnis noch zu Lebzeiten irgendwie zusammenzusparen und die Armenanstalten zu meiden, was von deren Betreibern allerdings nur ungern gesehen wurde. Da dies, so der Direktor des Helmstedter Armenhauses, "negative Konsequenzen für die Armenanstalten" nach sich ziehe. Denn wenn die Armen ausblieben, so argumentierte er, "würde die vortrefflichste Anstalt wieder ruiniert". Er hielt es daher etwa für notwendig, zwischen Armen zu unterscheiden, denen es "aus 'guten Ursachen'" gelungen war, die Armenanstalten hinter sich zu lassen und von der Anatomie befreit werden sollten, und denjenigen, die sich der Einrichtung nur entzogen, um nach ihrem Tode nicht zur Sektion freigegeben zu werden. Gerade sie sollten ihr zugestellt werden. Etliche Arme, denen es nicht möglich war, ihre künftigen Beerdigungskosten aufzubringen, verließen das Land oder nahmen zumindest die Armengelder nicht mehr in Anspruch, sondern bettelten heimlich. In Göttingen wurde die Fluchtbewegung armer Leute als Mittel erkannt, Bevölkerungspolitik zu betreiben. Hier sah der Anatom Roeder durch sie eine einfache Möglichkeit gegeben, die "überflüßige Menge von Gesindel und Bettelvolk" zu vertreiben.

Stukenbrocks Analyse der rechtlichen Bestimmungen zeigt, dass "der zur Ablieferung an die Anatomie bestimmte Personenkreis" während des 18. Jahrhunderts auf immer größere Randgruppen ausgedehnt wurde, deren Angehörige "gegen die gesellschaftlichen Normen verstoßen" hatten.

Angesichts all dessen verwundert es nicht, dass die Menschen in der Überstellung an die Sektion eine Strafmaßnahme sahen. Hierin ist neben dem bereits genannten Schamgefühl ein weiterer wichtiger Grund für die allgemeine Ablehnung zu suchen. Dass die Sektion von weiten Bevölkerungskreisen als Strafverschärfung aufgefasst wurde, manifestierte sich etwa darin, dass ein Vater, dessen Tochter als Kindsmörderin exekutiert worden war, sein Ersuchen, sie von der Sektion zu verschonen, damit begründete, dass sie "herzliche reue und wahre Buße rechtschaffen bezeuget" und sich "zu ihrem bevorstehenden Tode [...] recht willig angestellet" habe. Von der Obrigkeit wurde der Strafcharakter allerdings bestritten. So wurde die Bitte einer ledigen Mutter, ihr Kind von der Sektion zu verschonen, 1744 in Kiel mit der Begründung abgelehnt, dass die anatomischen Operationen "an sich nicht schimpflich" seien. Stukenbrock übernimmt solche und ähnliche amtliche Verlautbarungen unhinterfragt als tatsächliche Auffassungen der Behörden und konstatiert eine Diskrepanz zwischen der Einstellung der Obrigkeit und derjenigen der Betroffenen. "Während erstere offensichtlich die Anatomie als von der Art der Bestrafung und der Begnadigung unabhängig betrachtete", so die Autorin, sei dies von Seiten letzterer "nicht der Fall" gewesen. Wenn dem aber wirklich so gewesen wäre, stellt sich die Frage, warum nur die oben genannten Personengruppen und nicht überhaupt jedermanns Leichen zur Sektion herangezogen wurden. Dagegen spricht auch der Umstand, dass zwar die Verwandten von Armen die Sektion ihrer verstorbenen Angehörigen verhindern konnten, indem sie für das Begräbnis aufkamen, nicht aber diejenigen von Hingerichteten und Suizidanten.

Dass die drohende Sektion wenn nicht als Strafe, so doch zumindest als Disziplinierungsinstrument eingesetzt wurde, macht eine randständige Personengruppe deutlich, die bisher noch unerwähnt geblieben ist: die ledigen Mütter. Wie nicht anders zu erwarten, waren auch sie - die bereits zu Lebzeiten vielfältigen Repressalien ausgesetzt waren - nach ihrem Tode zur Sektion vorgesehen. In Göttingen konnten sogar Leichen von Frauen, die "bis ins hohe Alter" gelebt hatten, zur Sektion abgeliefert werden, "wenn die Verstorbenen in ihrer Jugend irgendwann einmal 'gefehlt' hatten". Im Übrigen fielen auch die unehelichen Kinder der Sektion anheim. Diese offenbar allerdings 'nur', insofern sie bereits im Kindesalter verstorben waren. Bezüglich der ledigen Mütter hebt auch Stukenbrock den Straf- und Disziplinierungscharakter die Freigabe zur Leichenöffnung hervor: "Wie bei den anderen Personengruppen war die öffentliche Sektion als Sanktion für die 'kriminellere' Variante vorgesehen: Ledige Frauen, die ihre Schwangerschaft und Geburt verheimlichten und starben, sollten öffentlich seziert werden". Bei allen anderen sollte es hingegen "lediglich privat" geschehen. Hierbei war natürlich an das Schamgefühl der Betroffenen gedacht.

Titelbild

Karin Stukenbrock: "Der zerstückte Cörper". Zur Sozialgeschichte der anatomischen Sektionen in der frühen Neuzeit (1650-1800).
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2001.
309 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3515077340

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