Schauspiel des Todes seit der Antike

Fünf neue Bücher zu Geschichte und Eigenart der Tragödie oder des Tragischen

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im 17. Jahrhundert statteten die Gelehrten die Allegorie der Tragödie mit bluttriefenden Attributen aus. Laut Harsdörffer handelten Trauerspiele stets "von der Könige, Fürsten und Herren Verzweifflung, Mordthaten, Verfolgung, Meineid, Betrug, Blutschanden, Schlachten, Tod" etc. Dem widersprach wenig später Jean Racine, als er betonte, dass es in einer Tragödie "durchaus nicht immer Blut und Tote geben" müsse. Damit vertrat Racine allerdings eine Minderheitenposition, denn von Anfang an bestimmten Gewalt und Tod die Geschichte der Tragödie.

In der Antike war der Tod, selbst da wo es keine Toten gab - wie in den "Eumeniden" des Aischylos -, gattungskonstitutiv. Er stand zumindest drohend im Hintergrund, meistens aber gab es auch zahlreiche Tote zu beklagen. Thema der Tragödie war allerdings nicht der Tod selbst, "sondern die besonderen Komplikationen, die mit dem Tod verbunden sein können und die ihn zu einem tragischen Tod machen", so Gustav Adolf Seeck in seiner Einführung "Die griechische Tragödie". "Irgendwelche Spielregeln, die für Menschen normalerweise gelten, sind durcheinandergeraten, wodurch ein eigentlich vermeidbarer Tod in gewisser Weise unvermeidbar wird." Meistens verstricken sich die tragischen Figuren im Netz der Normverletzungen derart, dass sie zugleich Täter und Opfer werden. Das macht das besondere Interesse an den tragischen Helden und Heldinnen der griechischen Tragödien aus und sichert ihnen Aufmerksamkeit auch noch bald zweieinhalb Jahrtausende nach ihrer Uraufführung. Jedenfalls den 32 überlieferten Stücken aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. (von mehreren tausend Dramen, die in den Jahren 550 v. Chr. bis 500 n. Chr. geschrieben und aufgeführt wurden, aber heute verloren sind).

Diese 31 Tragödien und dieses eine Satyrspiel stammen von Aischylos (7), Sophokles (7) und Euripides (17 + 1); hinzu kommt noch ein apokryphes, Euripides untergeschobenes Stück aus dem 4. Jahrhundert. Die Vorstellung der Dramen in der Art eines Schauspielführers macht den Mittelteil des genannten Bands von Seeck aus. Immer nennt er zuerst das Thema des Stücks, gibt anschließend eine Inhaltsangabe und endet mit einigen weiterführenden Erläuterungen. Interessanter sind die rahmenden Teile I und III. Im ersten Teil führt er den Leser an das Thema heran und bespricht theaterpraktische Voraussetzungen der antiken Tragödie; im dritten Teil widmet er sich eher theoretischen Fragen wie der Stofftradition, den formalen Bestandteilen der Stücke, der Motivstruktur, einzelnen Rollen oder der Wirkung der Tragödie.

Seeck führt in die Welt der griechischen Tragödie in 206 Abschnitten auf 242 Seiten ein; im Durchschnitt also kaum mehr als eine Seite pro Abschnitt, manche sind nur wenige Zeilen lang, andere dafür bis zu drei Seiten. Das Buch ist also sehr kleinteilig gegliedert, was es enorm übersichtlich und brauchbar macht. Betont nüchtern und in einem sehr klaren Stil beantwortet Seeck alle wichtigen Fragen, die einem zur griechischen Tragödie einfallen können; zwar ohne auf Forschungsprobleme im Einzelnen einzugehen, aber auch ohne ungelöste Probleme zu verschweigen.

Ausgehend von einer Bestandsaufnahme (Definition, Wieviele Tragödien gab es? Wieviele gibt es noch? Woher kennen wir die Aufführungsdaten? Seit wann gibt es Übersetzungen? etc.), legt er unser heutiges Wissen über den Ursprung der Tragödie dar, ihre Entstehung und ihre Geschichte, wer die Dichter waren, wer die Aufführenden und wer das Publikum, wie die Theater funktionierten. Nach der Vorstellung der erhaltenen Stücke werden wie gesagt die theoretisch relevanten Fragen nach dem Mythos, der Rolle des Dionysos, den Bestandteilen Text und Musik, den äußeren Strukturen und Ähnliches (Wie realistisch waren die Aufführungen? Welche Rolle hatte der Chor? Wieviele Rollentypen gab es? Welche modernen Interpretationsprobleme gibt es? Was ist das Tragische? Wann durfte gelacht werden? Was beabsichtigten Dichter und Inszenierungen?) beantwortet. Es ist bewundernswert, mit welcher Leichtigkeit und Umsicht diese Darstellung geschrieben scheint. Man fühlt sich so angenehm unterrichtet wie selten, so dass dem Buch möglichst viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind. Es ist zuverlässig, knapp und allgemein verständlich: Was will man mehr von einer Einführung, die der Autor zu Recht als Nachschlagewerk für kritische Theaterbesucher und Literaturinteressierte allgemein (einschließlich der Fachstudenten) empfiehlt?

Etwas spezieller, d.h. vor allem für Studierende oder Fachgelehrte der Germanistik, ist dagegen Christian Rochows Übersichtsdarstellung zu einem eigentümlichen Erbe der antiken Tragödie geschrieben: "Das bürgerliche Trauerspiel". Die Schwierigkeit einer Monographie zur Gattung des bürgerlichen Trauerspiels liegt vor allem darin, dass man durchaus bezweifeln kann, ob "es denn überhaupt eine Gattung war", wie Rochow gleich zu Anfang fragt - schließlich habe diese Gattung "weder eine schlüssige Dramaturgie noch Stücke hervorgebracht, die sich wenigstens genau an die poetologischen Aussagen ihrer Autoren gehalten hätten", wie es später heißt. Allerdings diskutierten die Zeitgenossen zwischen 1750 und 1780 intensiv die neue "Pseudo-Gattung" (Rochow), überschätzten aber wohl ihre Eigenständigkeit.

Tatsächlich erschließt sich ihr Gehalt "nur im Bezug auf die Gattung Tragödie", weshalb Rochow seine Darstellung nicht erst mit Lessing sowie den englischen (Lillo) und französischen Vorbildern (Diderot) beginnen lässt, sondern mit Gottscheds Theaterreform, die als erster Schritt in Richtung des bürgerlichen Trauerspiels interpretiert wird. In der Tat liegt Lessings Mitleidstragödie im Fluchtpunkt der Gottsched'schen Theorie. Daneben etablierten sich aber noch weitere Formen einer bürgerlichen Tragödie: Etwa das republikanische Schauspiel, das in der bürgerlichen Privatsphäre spielende Trauerspiel der Abschreckung oder auch das bürgerliche Familiengemälde.

Es ist ein großes Verdienst von Rochows Studie, die auch auf zu Unrecht vergessene Zugänge des frühen 20. Jahrhunderts zurückgreift (zum Beispiel Fritz Brüggemanns psycho-sozialen Ansatz), dass sie das Feld breiter beleuchtet als üblich. Es werden nicht nur Spitzenwerke untersucht und vorgestellt, sondern auch die vielen minder bedeutenden Dramen, in denen sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Selbstverständnis der bürgerlichen Klasse ausspricht; und diese Werke werden im Kontext des ernsten Dramas überhaupt gesehen, sofern es spezifisch bürgerlichen Charakters war. Als spezifisch ,bürgerlich' gilt dabei die Konzentration auf eigene Klasseninteressen in Auseinandersetzung mit den Strukturen des spätabsolutistischen Ständestaats. Dramen mit einer mythischen Grundstruktur schieden aus, besonders wenn sie als "mythologisches Analogon" zur Weltordnung insgesamt gedacht waren (die Tragödien des Klassizismus etwa).

In der bürgerlichen Dramenwelt herrschte nach Rochow die reine Immanenz und eine einheitliche Moralität, die eine Tragik in Form des Aufeinandertreffens unvereinbarer sittlicher Prinzipien gar nicht kannte. Es ging den bürgerlichen Aufklärern von Gottsched über Lessing bis zu Iffland - und Rochow zählt auch Sozialdramatiker wie Lenz dazu - um ein gesellschaftlich relevantes Theater, das an der Überwindung von Elend, Ungerechtigkeit und Unterdrückung arbeitete, wobei um 1780 nur darüber gestritten wurde, welches die geeigneten Mittel seien. "Lenz verficht eine Dramatik, deren wesentliches Kriterium die beobachtende Gesellschaftsanalyse ist, Schiller eine Dramatik des Abscheus und der Empörung, Iffland mit Lessing eine Dramatik des einverständigen Mitleids. Auf verschiedenen Wegen arbeiten alle diese Dramaturgien an der Herausbildung einer bürgerlichen, kritikfähigen Öffentlichkeit."

Das Dilemma aber der von Rochow analysierten bürgerlichen Dramatik ist, dass sie selbst in ihren radikalsten Vertretern stets auf das ständische Modell und den absolutistischen Obrigkeitsstaat bezogen blieb und daher scheitern musste -"mitsamt der Hoffnung" der sie "tragenden politischen Schicht, dass eine staatsbürgerliche Emanzipation innerhalb des Absolutismus möglich wäre". Die Frontstellung zwischen bürgerlicher Intellektualität und Fürstenstaat löste sich um 1800 allmählich auf, ebenso wie die unüberwindbare Opposition zwischen den Ständen. Es kommt zu Schwund- und Privatisierungsformen des bürgerlichen Schauspiels, die Rochow dankenswerterweise auch noch mitbehandelt. Das bürgerliche Trauerspiel versinkt im Sumpf der Trivialdramatik bürgerlicher Rührstücke, denen kein emanzipativer Gehalt mehr zugeschrieben werden kann.

In einem Epilog zeigt Rochow dann noch, warum Hebbels Versuch, mit "Maria Magdalena" etwas allgemein Gültiges innerhalb eines bürgerlichen Familienkonflikts aufzuzeigen, ebenfalls scheitern musste: "Das anekdotische Moment, an dem die bürgerliche Dramatik, wie Hebbel erkannte, stets krankte, ist ihr nur um den Preis einer falschen Weltinterpretation auszutreiben". Außerdem spielt Hebbels Stück "im Kleinbürgertum, nicht in der Kaufmannsbourgeoisie, also in einem Segment der bürgerlichen Klasse, das an der bürgerlichen Emanzipation nicht teilnahm. [...] Hebbel suchte das Tragische dort zu finden, wo es sich hätte finden lassen müssen, wenn es denn mehr gewesen wäre als eine ideologische Konstruktion. Aber er fand es nicht."

Solche Sätze lassen ahnen, warum nach Rochows Einschätzung das bürgerliche Trauerspiel ein von Anfang an zum Scheitern verurteiltes Unternehmen war. Der Versuch, ein sozialpolitisch relevantes Drama als bürgerliche Tragödie zu entwerfen, zerschellte an den reformistischen Prämissen der Aufklärungsideologie. Hatte man anfänglich erwartet, dass es genüge, wenn Fürsten sich als Menschen begriffen, um das Glück aller zu gewährleisten, so war spätestens mit Lessings "Emilia Galotti" klar, dass es "zum Unglücke so mancher" gereichte, "daß Fürsten Menschen sind". Darauf ließ sich nur revolutionär antworten, worauf in Deutschland bekanntlich verzichtet wurde. Allenfalls wiederbelebte man die heroische Märtyrertragödie (Beispiel ist hier etwa ein Drama von Anton Mathias Sprickmann) oder schrieb explizit politisch gemeinte republikanische Trauerspiele (Rochow führt ein Stück von Cornelius von Ayrenhoff an), die aber unbefriedigend blieben, weil sie der klassischen Tragödienkonzeption zu sehr verhaftet waren.

In Rochows Darstellung läuft alles auf ein gänzlich anders gedachtes soziales Drama hinaus, wofür er den "Woyzeck" von Hebbels Altersgenossen Georg Büchner als Beispiel anführt, der bewiesen hätte, "dass ein neues soziales Drama nicht als Tragödie und schon gar nicht als bürgerliches Trauerspiel konzipiert werden konnte". Von hier aus ging es weiter, so Rochow: "Von der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels aus führt hingegen kein Weg in die Gegenwart."

Solch apodiktische Sätze lassen sich leicht bestreiten. Zumal wenn man weiß, dass noch 1850 Georgs Bruder Ludwig Büchner "Woyzeck" als "bürgerliches Trauerspiel" bezeichnete. Noch manch anderes Detail wäre in Rochows Buch kritisch zu diskutieren; aber überhaupt eine Diskussionsgrundlage geliefert zu haben, ist nicht das geringste Verdienst von Rochows Studie. Sie ist hervorragend geschrieben und engagiert gedacht; streitbar und auch gelegentlich bestreitbar. Vor allem aber gebührt ihr das Verdienst, nach Horst Steinmetz' "historischem Überblick" zum Aufklärungsdrama von 1987 erstmals wieder eine bündige, preiswerte und im Literaturunterricht brauchbare Gesamtdarstellung geliefert zu haben, die klar macht, warum es sich lohnt, über das seit einiger Zeit als erledigt oder langweilig verschrieene Aufklärungsdrama zu streiten. (Wie leicht nämlich verschwinden erst einmal die teuren Bücher zum Thema, etwa die 1993 erschienenen Studien von Albert Meier und Cornelia Mönch, oder die 1994 erschienene Studie von Christian Rochow selbst, im massenhaften Rauschen akademischer Qualifikationsarbeiten, bevor sie unnötig spät im akademischen Diskurs wieder auftauchen!)

Außerordentlich wertvoll für den Literaturunterricht ist auch die von dem Berliner Literaturwissenschaftler Ulrich Profitlich (in Zusammenarbeit mit vier weiteren Gelehrten) 1999 herausgegebene, kommentierte Sammlung von Textauszügen zur "Tragödientheorie" vom Barock bis zur Gegenwart. Zwar gab es schon - wenn auch zum Teil nicht mehr aufgelegt - diverse Sammlungen theoretischer Äußerungen zur Tragödie; was diese Sammlung indes vor den anderen, in guten Bibliotheken immerhin noch greifbaren auszeichnet, ist eine gewisse Konzentration auf Äußerungen von ,Praktikern', also solchen Autoren, die nicht nur theoretisch über die Tragödie reflektierten, sondern auch welche schrieben.

Der Band ist in sieben epochal definierte Einheiten gegliedert: 1. Barock; 2. Von der frühen Aufklärung zum Sturm und Drang; 3. Weimarer Klassik; 4. Von der Romantik bis zum Realismus; 5. Vom Naturalismus bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs; 6. DDR; 7. Die Nachkriegsjahrzehnte im Westen. Über die Gliederung ließe sich natürlich trefflich streiten; und wie stets ließe sich auch dieser Sammlung der Vorwurf machen, die Gewichte nicht optimal verteilt zu haben (ist hier nicht die Weimarer Klassik überrepräsentiert?) oder manche Äußerung oder manche Autoren nicht optimal repräsentiert zu haben... Die Herausgeber wissen natürlich um das Dilemma, dem noch immer ein solches Unternehmen ausgesetzt ist und bedauern vor allem, dass die Umfangsbegrenzung ihnen "Weglassen und Kürzen [...] bis über die Grenze des Verantwortbaren hinaus" auferlegte. Doch ist das "Verantwortbare" stets relativ zu sehen, und ich möchte doch betonen, dass die Auswahl insgesamt als gelungen zu bezeichnen ist. Allenfalls das vierte, von Michael Schulte und Marie-Christin Wilm zu verantwortende Kapitel erscheint mir etwas zu unausgewogen, weil hier die ,romantischen' Theorieansätze - wohl weil sie für die ,moderne' Poesie insgesamt innovativer wirken, gegenüber den ,realistischen', aber für die Epoche repräsentativeren Aussagen - zu stark privilegiert wurden. Dagegen besticht das von Karl-Heinz Hartmann komponierte fünfte Kapitel zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine intime Kenntnis verratende Konfrontation, etwa der gegensätzlicher kaum denkbaren Autoren wie Walter Benjamin und Bertolt Brecht auf der einen, Hanns Johst und Curt Langenbeck auf der anderen Seite.

Wie dem aber auch im Einzelnen sei: Der Band "Tragödientheorie" antwortet wie sein Pendant "Komödientheorie" (1998) auf ein verbreitetes Bedürfnis nach einer günstig zu erwerbenden Textsammlung, die heutigen wissenschaftlichen Standards entspricht: Kein Dogma behauptend, sondern wichtige Texte (oder Auszüge) zur Diskussion anbietend.

Nicht ganz so günstig kann ich zwei weitere, eher marginale Bücher beurteilen. Es handelt sich um keine Lehrbücher im eigentlichen Sinn, sondern um Bände, die von der Hausse des neu erwachten Interesses an der Tragödie oder dem Tragischen profitieren wollen. Bekanntlich wurde es nach einer Hoch-Zeit des ,Tragischen' Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland einigermaßen still um die Tragödie, spätestens nachdem Peter Szondi noch unter dem Eindruck des Faschismus in seinem "Versuch über das Tragische" (1961) feststellte, "daß es das Tragische nicht gibt, nicht zumindest als Wesenheit". "Tragik war fast gleichbedeutend mit Faschismus", lautete ein von Heiner Müller im Rückblick aufgespießter Gemeinplatz jener Zeit. Allerdings hat sich seit Hans-Dieter Gelferts empirisch orientierter Studie über "Theorie und Geschichte" der "Tragödie" das Bild wieder gewandelt. Seither trauen sich auch deutschsprachige Autoren wieder über Tragik zu schreiben.

Eigenwillige Lesarten von zehn berühmten Tragödien (Sophokles, "Oidipus Tyrannos", "Antigone"; Shakespeare, "Hamlet", "Macbeth"; Vondel, "Lucifer"; Racine, "Phèdre"; Schiller, "Wallenstein"; Hölderlin, "Empedokles"; Kleist, "Prinz Friedrich von Homburg"; Goethe, "Faust") bietet der in Gent lebende Philosoph Rudolf Boehm an. Er komponierte den Band aus zehn Aufsätzen, die zwischen 1975 und 2000 entstanden und die keineswegs eine zusammenhängende Reflexion auf den "Erkenntnisbeitrag großer Tragödien" darstellen, sondern das sind, was sie angeblich nicht sein sollen: "ein Sammelband gelegentlich verfaßter Aufsätze". Das bemerkt man schon an den zahlreichen Redundanzen. Diese haben aber den Vorteil, dass man gar nicht verpassen kann, worauf es Boehm eigentlich ankommt: Skepsis vorzubringen gegen das Wissen und seine vermeintlichen Gewissheiten, die für ihn das Wesen der "Tragik" ausmachen.

"Wenn es etwas gibt, woran sie alle, Oidipus und Antigone und Kreon, Hamlet und Macbeth, Lucifer, Phèdre, Wallenstein, Empedokles, der Prinz von Homburg und sein Kurfürst und Faust, sich ,schuldig' machen, aber nicht so an anderen als zumal an sich selbst, dann ist es dieser Wahnsinn eines falschen Gefühls der Sicherheit oder eines falschen Verlangens nach Sicherheit". Individuelle, aber auch zufällige Überhebung allemal. Nach Boehm gibt es in den Tragödien kein Schicksal, keine Notwendigkeit, keine Schuld, keinen Zwang der Verhältnisse, sondern immer nur eine fatale Kette von mehr oder minder dummen Zufällen, die die im Wahn der Sicherheit Stehenden zu Grunde richten. Die Botschaft der Tragödie sei - mit Turgenjew zu sprechen -, "daß es nichts Furchtbares gibt und daß das Leben seicht, klein, langweilig und bettelarm ist". Die Tragödie (Boehm hypostasiert die Gattung gern und häufig) tritt hier als abgesagte Gegnerin der Philosophie insbesondere rationalistischer Spielarten etwa Platons und Aristoteles' oder Descartes' und Kants auf und soll das Vertrauen in scheinbar verlässliche Wissensordnungen erschüttern. Wo sich Tragik einstelle, werde ein Traum von Blaise Pascal wahr, der sich um 1660 vornahm, "zu schreiben gegen jene, die zu sehr die Wissenschaften vertiefen". Zu denen will Boehm nicht gehören. Selbst wenn er einmal, fast schon entschuldigend - wie im Aufsatz über Oidipus -, "Gelehrtes" anzubringen sich genötigt sieht, kann man ihm nicht vorwerfen, die Sache allzu sehr zu "vertiefen". "Das Unzulängliche, / Hier wird's Ereignis" - zitiert Boehm mehrfach aus dem "Faust" - "Ein großer Aufwand, schmählich! ist vertan". Pascal flüchtete sich aus dem Zweifel an den menschlichen und philosophischen Gewissheiten, aus den Unzulänglichkeiten irdischer Existenz zu einem verborgenen Gott. Dass uns die Tragödien dasselbe nahe legten, behauptet Boehm nun gerade nicht. Vielleicht wäre das für ihn nur wieder eine Flucht in eine vermeintliche Sicherheit. Verunsicherung sei das Werk der Tragödie, meint Boehm. Und wir sollten uns lieber in eine angenehme Ignoranz hüllen, denn die lässt das Unsichere besser aushalten. Wie sagte noch Teiresias zu Oidipus (in Hölderlins Übersetzung): "Ach! ach! wie schwer ist Wissen, wo es unnüz / Dem Wissenden".

Weniger problematisch in weltanschaulicher Hinsicht ist der ein wenig etikettenschwindlerische Band "Das Tragische" (2000). Er enthält die Akten des "Congreso Internacional sobre La Tragedia y el concepto de lo trágico", der im November 1998 im spanischen Valencia stattfand. Wer sich auf die im Vorwort versprochenen "unterschiedlichen theoretischen Ansätze und Interpretationen, die vor allem auf die kulturellen und nationalen Traditionen der Referentinnen und Referenten zurückzuführen sind," (so nennt man das heute, wenn ein Band kein geschlossenes Konzept hat) einlassen will, muss allerdings polyglott sein: Man sollte wenigstens deutsch, französisch, italienisch, katalanisch und vor allem spanisch können, um die Beiträge genießen zu können; dazu noch englisch, wenn man auch die beigegebenen Rezensionen (die mit dem Thema des Bands allerdings nichts zu tun haben) zur Kenntnis nehmen will. Dann aber hat man die Chance, so allerlei zu erfahren: Etwa über das Konzept des Tragischen bei Aristoteles, bei dessen Kommentator Ibn Ruschd (Averroes), bei Schopenhauer, Nietzsche, oder in der Philologie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts; über den Begriff der Inszenierung bei Aristoteles; über das Dionysische bei Nietzsche, Rohde, Mann und Freud; über Ödipus' Blindheit bei Sophokles; die Aufwertung Kassandras bei Euripides; das Heroische in Aischylos' "Hiketiden"; tragische Aspekte in einem Märchen-Spiel Robert Walsers; den Realismus der griechischen Tragödie insgesamt; und was das alles mit europäischer Kultur und Buddhismus zu tun hat. Ebenfalls abgedruckt in dem Band ist die gekürzte Fassung des Dramas "El Camaleón" über die letzten Tage Kaiser Claudius' und die Machenschaften Agrippinas, Neros, Messalinas und anderer von Juan Alfonso Gil Albors (geb. 1927) aus dem Jahr 1965, die den Kongressteilnehmern in einer szenischen Lesung dargeboten wurde. Insgesamt also ein ziemlich wildes Sammelsurium, wovon man halten kann, was man will. In Spanien hat sich offenbar niemand gefunden, der das Buch drucken wollte; so sprang Bernhard Zimmermann, der mit dem Band an sich wenig zu tun hat, mit seiner Reihe "Drama" in die Bresche, wofür sich die Generaldirektorin für Hochschule und Forschung der Provinz Valencia in den "palabras preliminares" artig bedankt.

Titelbild

Christian Erich Rochow: Das bürgerliche Trauerspiel.
Reclam Verlag, Leipzig 1999.
247 Seiten, 7,20 EUR.
ISBN-10: 3150176174

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Titelbild

Ulrich Profitlich (Hg.): Tragödientheorie. Texte und Kommentare. Vom Barock bis zur Gegenwart.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
380 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3499555735

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Titelbild

Bernhard Zimmermann / Carmen Morenilla (Hg.): Das Tragische.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
VI, 324, 25,60 EUR.
ISBN-10: 3476452425

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Titelbild

Gustav Adolf Seeck: Die griechische Tragödie.
Reclam Verlag, Stuttgart 2000.
272 Seiten, 5,60 EUR.
ISBN-10: 3150176212

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Titelbild

Rudolf Boehm: "Tragik". Von Oidipus bis Faust.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2001.
151 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3826019849

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