Mediendidaktische Dichterbegegnung

Zu Hugo Schultz' Romanessay "Bruder Lenz"

Von Thorsten UngerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Unger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit Georg Büchner interessiert sich die literarische Öffentlichkeit nicht nur für das Werk, sondern ebenso für die Höhen und Tiefen im Leben des livlanddeutschen Dichters Jacob Michael Reinhold Lenz (1751-1792). Die Höhen führen in den Straßburger Raum: Hier erschreibt sich Lenz Anfang der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts mit Gedichten, Erzählungen, Essays und vor allem mit einer Reihe von Dramen eine feste Position als wichtigster Vertreter des Sturm und Drang. Die Tiefen folgen abrupt Ende 1777 mit dem Ausbruch seiner Schizophrenie und einer schwierigen Existenz ohne festen Brotberuf, die 1792 auf einer Moskauer Straße endet. Lenz' Erkrankung liefert den Stoff für Büchners Erzählung "Lenz" (1839). In der Folge entstehen etliche weitere Texte, die Aspekte aus Lenz' Leben auf dem Wege einer produktiven Rezeption literarisch gestalten. Höhepunkte im 20. Jahrhundert sind etwa Peter Schneiders Erzählung "Lenz" (1973), der den Stoff in die Zeit der Studentenbewegung verlegt, und Gert Hofmanns Hörspiel "Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga" (1981), der das bei Lenz wichtige Motiv des ,verlorenen Sohnes' umkehrt und Lenz' Vater, den Superintendenten in Riga, seinen Sohn verstoßen lässt.

Hugo Schultz' Buch "Bruder Lenz", das rechtzeitig zum 250. Geburtstag des Dichters erschien, ist das bislang letzte Werk in der Reihe dieser produktiven Lenz-Aneignungen. Es ist als eine Folge von Reisegesprächen gestaltet. Elvira, Julie und Rainer, drei Kenner der Werke von Büchner, Goethe und Lenz, unternehmen eine Reise durchs Elsass und die Vogesen auf Lenz' Spuren. Die besuchten Orte werden zum Anlass für ausführliche Gespräche über die Dichter, die Rainer, der zugleich als Ich-Erzähler fungiert, abends aufzeichnet. Das Ergebnis ist der vorliegende ,Romanessay'.

Schultz vertritt die Position, dass Lenz' Wahnsinn und sein früher Tod auf Goethes Konto gehen. Der nämlich hatte seinen ehemaligen Freund und Dichtergefährten der Straßburger Zeit aus nicht mehr genau rekonstruierbarem Anlass aus Weimar ausweisen lassen; in der Tat eine beispiellose Aktion. Damit aber habe Goethe - so stellt es Schultz dar - die Freundschaft mit Lenz einseitig und für Lenz folgenschwer gebrochen. Zugleich habe er sich in Weimar an die Macht verkauft und die politisch-gesellschaftlichen Ideale des Sturm und Drang verraten. So sei er nicht nur für Lenz als Freund verloren, sondern auch für Deutschland als modernisierender Intellektueller. Zusammen hätten die beiden ihr Land auf einen anderen Weg bringen können. "Rousseau und Voltaire waren [...] die großen Wegbereiter der Revolution in Frankreich", heißt es. "Göthe und Lenz" - wenn der junge Goethe gemeint ist, schreibt ihn Schultz konsequent mit Umlaut - "hätten in Deutschland vielleicht die gleiche Rolle übernehmen können. [...] Aber Goethe" - hier also der ältere der Weimarer Zeit - "sprang nun mal auf den anderen Wagen auf, obwohl der bereits dabei war, in die Brüche zu gehen. [...] Wie um das goldene Kalb tanzen sie in Deutschland um die Macht, sei's die der Wirtschaft, die der Politik oder die der Medien. Das macht kaum einen Unterschied."

Einzelheiten zu Goethes Machtambitionen und zu seinem Bruch mit Lenz hatte Schultz bereits in einem ersten Roman mit dem Titel "Goethes Mord" (Eggingen: Edition Isele, 1999) ausgestaltet. In "Bruder Lenz" werden diese Zusammenhänge erneut ausführlich aufgerufen, das Buch bekommt dann aber einen anderen Akzent: Jetzt geht es darum, Lenz und Büchner zusammenzuführen, denn in Büchner "hätte Lenz wieder einen Bruder gefunden", heißt es zu Beginn, "einen, der ihm auch ins Unglück folgt. [...] Beide tanzten aus der Reihe, waren für die, die regierten, unberechenbar, unbequem." Und: es sei ein Jammer, dass sie sich im Leben nicht begegnen konnten. Was die Geschichte nicht zuließ, das ermöglicht Schultz in einer kreativen Umgangsweise mit den Quellen, die Deutschlehrer an den 'produktionsorientierten Literaturunterricht' erinnern wird, der zur Zeit in den Schulen Konjunktur hat. Dabei werden die Medien Computer und Theater einbezogen.

Die Denkmalpflegerin Elvira Möllner will ein Computerprogramm schreiben, das auf der Grundlage von Büchners "Lenz" und von Goethes Gedicht "An Schwager Kronos" die Beziehung von Lenz und Goethe verdeutlichen soll. Auf der Vogesenreise sammelt sie Anregungen, macht erste Videoaufnahmen und stellt ihre Ideen den beiden Reisebegleitern vor. Zunächst schwebt ihr eine Computeranimation auf einem in der Mitte horizontal, also in einen oberen und einen unteren Bereich geteilten Bildschirm vor: "Ich werde Göthe auf seiner Kutsche und Lenz bei seinem Gang zum Schneefeld parallel agieren lassen: Göthe oben in dieser Kutsche, bei und hinter ihm vielleicht der noch fröhliche Lenz; der wahnsinnige Lenz unten am Boden. Die Texte von Göthe und Büchner werde ich jeweils unter diesen beiden Bildebenen abspulen." Wichtiger als die virtuelle Zusammenstellung auseinander liegender Zeitphasen ist es ihr bei diesem Verfahren, die gegensätzlichen Lebenshaltungen der beiden Dichter auf einem Bildschirm zu veranschaulichen. Oben Goethe, der den Kutscher Kronos auch dann noch zur Eile anspornt, wenn es bergab geht, unten der kranke Lenz, der - wie es bei Büchner heißt - 'gleichgültig' weitergeht, "es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts". Und während Lenz nurmehr vorwärts stolpert, soll das Computerbild veranschaulichen, wie die "Wünsche Göthes [...] weder die Schwerkraft des Körpers noch die des Lebens" aufhalte. Das skizzierte Verfahren kann als Umschreiben des Gedichts und der Erzählung in ein neues Medium aufgefasst werden. Dabei wird das Ergebnis eines Sich-Einfühlens in das lyrische Ich einerseits und in Büchners Lenz-Figur andererseits jeweils in einen neuen visuellen Ausdruck umgesetzt. ,Den Ist-Zustand fortschreiben', wird das Verfahren an einer späteren Stelle genannt.

Ähnlich sind die Überlegungen zu einer Theaterinszenierung gelagert, die Julie in den Vogesen anstellt. Ihr Projekt besteht darin, Büchners Erzählung in einem Zweipersonenstück szenisch darzustellen. Darin wird die beabsichtigte Annäherung von Lenz und Büchner umgesetzt. Julie imaginiert eine Bühne mit großer Projektionswand im Hintergrund. Am Anfang der Erzählung stehe Büchner hinten auf einem Podest, vorne, "in sich zusammengesunken, Lenz, ebenso gekleidet wie Büchner." Während Büchner den Text der Erzählung spricht, nähert er sich langsam Lenz. "Unten angekommen, stellt er sich hinter Lenz und faßt ihn an der Schulter. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump." Zu Büchners Sprechtext sollen Hintergrundprojektionen mit den genannten Objekten in Nahaufnahmen "isoliert und verzerrt" zu sehen sein. Aber wichtiger als der auf diese Weise angestrebte filmische Ausdruck von Lenzens subjektiver Weltsicht sind im vorliegenden Zusammenhang Gestik und Proxemik des Büchner-Darstellers. Denn sein Spiel illustriert gut eine Übung zur szenischen Textinterpretation, die ebenfalls zur Didaktik des produktiven Literaturverstehens zählt. Aufgabe des Darstellers wäre es, auf der Grundlage des Erzähltextes Lenz' innere Befindlichkeit einfühlend zu verstehen und dieses Verständnis als zunehmende Annäherung zu demonstrieren. Durch die Berührung an der Schulter wird schließlich gestisch angedeutet, dass der Büchner-Darsteller jetzt Lenz' Perspektive einnimmt. Ganz so wird beispielsweise in Ingo Schellers methodischen Vorschlägen zur szenischen Interpretation im Unterricht das Handauflegen auf der Schulter immer wieder als gestischer Ausdruck für das Einfühlen in eine Figur verwendet. Aber Julie geht in der Annäherung noch einen Schritt weiter und lässt die Figuren Büchner und Lenz miteinander verschmelzen: "Die beiden Dichter gehen zum Rand der Bühne. Büchner steht dicht hinter Lenz, kaum noch etwas von ihm ist sichtbar. Er verschwindet schließlich, nur seine Stimme ist noch da." Das Verfahren interpretiert Büchners Erzählung im Hinblick auf eine Identifikation der beiden Dichter: Lenz wird darin nur aus Büchners Perspektive greifbar; Büchner auf der anderen Seite identifiziert sich mit Lenz' Position. Aus dem didaktischen Ansatz der ,szenischen Interpretation' ließen sich weitere Verfahrensweisen in Schultz' Buch zeigen. Das Kunstgespräch zum Beispiel wird in einer Art ,szenischer Lesung' inszeniert; häufig führen die drei Reisenden ,Rollengespräche'; und auch Julies Absicht, die szenische Wiedergabe von Büchners oder Oberlins Text an bestimmten Stellen zu unterbrechen und Metareflexionen über das szenisch Dargestellte einzufügen, gehört in das Methodenrepertoire dieses Ansatzes.

Die auf diese Weise kreativ präsentierten Textinterpretationen reizen kaum zu einer rein fiktionalen, eher schon zu einer philologischen Lektüre mit den zitierten Werken der drei Dichter aufgeschlagen daneben. Doch auch dabei stört, dass "Bruder Lenz" nicht nur hinsichtlich der vorgestellten Experimente auf didaktische Methoden rekurriert, sondern auch sonst ein didaktisches Buch ist. Schon mit den eingangs vorgestellten Thesen liegt auf der Hand, dass die goethekritische Position im Medium dieser Reisegespräche didaktisch plausibel gemacht werden soll. Außerdem dominiert in den Gesprächen stilistisch ein pädagogisch belehrender Ton. Besonders Rainers längere Einlassungen beginnen zuweilen mit schwer goutierbaren Wendungen wie dieser: ",Ich habe dich auf diese Textstelle hingewiesen', betonte ich, ,und habe dich auch darauf aufmerksam gemacht, daß [...]'"; oder: "Elvira faßte abschließend zusammen: [...]." Da fehlt eigentlich nur noch ein Tafelbild. Genießen lässt sich das nicht. Auch Spannung will partout nicht aufkommen. Weltliteratur hat Schultz mit den Mitteln des produktionsorientierten Literaturunterrichts also wohl nicht produziert.

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Hugo Schultz: Bruder Lenz. Georg Büchner und die Leiden des jungen J. M. R. Lenz. Eine Spurensuche. Spiegelgasse-Trilogie, Band 2.
Edition Klaus Isele, Eggingen 2000.
206 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3861421887

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