Gender - die Maginot-Linie des Feminismus?

Joan W. Scotts Rede anlässlich ihrer Ehrung mit dem Hans-Sigrist-Preis

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gender, in den letzten Jahren nicht nur bei feministisch orientierten Literatur-, Kultur- und GeisteswissenschaftlerInnen zu einer der zentralen Analysekategorien avanciert, wird unvermutet vehement infrage gestellt. Gender, so heißt es, sei "nicht mehr die nützliche Kategorie, die sie einmal war", vielmehr sei sie inzwischen "ihres Sinnes entleert". Zwar ist es zunächst nur eine einzige Stimme im weiten Rund feministischer Wissenschaftlerinnen, die diese provozierende These vertritt, aber es ist eine gewichtige; nämlich die der amerikanischen Historikerin Joan W. Scott, die 1986 mit ihrem wegweisenden Aufsatz "Gender. A Usefull Category Of Historical Analyses" (dt. 1994) nicht unwesentlich zum bislang unaufhaltsamen Aufstieg der Analysekategorie beigetragen hatte. Vorgetragen hat Scott ihren provokanten Text 1999 in Bern anlässlich der Entgegennahme des Hans-Sigrist-Preises. Ihre Rede ist nun in dem von Claudia Honegger herausgegebenen Band "Gender - die Tücken einer Kategorie" nachzulesen, der neben Scotts Rede eine Reihe weiterer Beiträge des die Preisverleihung begleitenden Symposions "Gender, History & Modernity" dokumentiert. Scott habe, so unterstreicht Honegger in der Einleitung, die theoretische Basis der Weiterentwicklung der Frauengeschichte zur Geschlechtergeschichte geschaffen und ihr "methodologisch innovative Wege" aufgezeigt sowie "neue Forschungsfelder" eröffnet.

Wie aber begründet Scott nun ihre Infragestellung von Gender als nützlicher Analysekategorie? Zwar sei der Begriff früher von "außerordentlichem Nutzen" gewesen, so die Preisträgerin, doch vermöge er die "jetzt anstehende Arbeit" nicht zu leisten. Diese bestehe darin, behauptet Scott aus nachvollziehbaren Gründen, "die extremen Behauptungen und Ansprüche der Evolutionspsychologie zu kontern". Dass die Analysekategorie Gender hierzu unfähig sei, hänge genau mit dem zusammen, was einmal ihre Stärke ausmachte: die Ablehnung, "sich auf das körperliche Geschlecht einzulassen". Zwar sei es mit Hilfe der konstruktivistischen Gender-Theorien möglich gewesen, aus einer feministischen Perspektive die Legitimität der Naturwissenschaften anzufechten, jedoch hätten sie gleichzeitig die Auseinandersetzung mit den Aspekten biologischer Erkenntnisse unterbunden, die zu einer "Historisierung des anatomischen Geschlechts" hätten beitragen können. Stattdessen sei die Behauptung des biologischen Geschlechtes als Grundlage der sozialen Konstruktion von Geschlechterdifferenz nicht hinterfragt worden. Eine Einschätzung, die angesichts der theoretischen Ausführungen Butlers etwas befremdet, deren Erkenntnisse Scott hier vernachlässigt.

Dennoch warnt die Autorin wohl nicht ganz zu Unrecht davor, dass sich Gender bei dem Versuch, der "triumphalen Rückkehr" der "Soziobiologie als Evolutionspsychologie" und der "Darwinisierung der Geschichtswissenschaft" Einhalt zu gebieten, auf fatale Weise als "die Maginot-Linie des Feminismus" erweisen könnte. Das könne zur Folge haben, dass die Evolutionspsychologie "hundert Jahre feministische Kritik" zurückwerfen, wenn nicht gar aufheben werde. Auch wenn diese Befürchtung überzogen ist, wie Scott selbst einräumt, sei es doch notwendig, nachdrücklich auf die Probleme hinzuweisen, "die wir jetzt in Angriff nehmen müssen".

Letztlich richten sich Scotts Darlegungen aber nicht gegen Gender als Analysekategorie in ihrer genuinen Bedeutung. Denn tatsächlich vermag sie, so die Autorin, das biologische Geschlecht "radikal zu entnaturalisieren", indem sie es relativiert und historisiert. Doch ist der Begriff inzwischen "im landläufigen Sinne" zu einem "Synonym für die zugeschriebenen und die 'natürlichen' Unterschiede zwischen den Geschlechtern" herabgesunken. Schlimmer noch: er ist zu nichts weiter als einer "alternativen Möglichkeit" der Rede über Männer und Frauen verkommen, und die Analysekategorie hat "ihre einstmals radikale akademische und politische Aktions- und Wirkungsmacht" verloren. Dieser Verlust sei allerdings schon in der ursprünglichen Bedeutung von Gender angelegt gewesen und müsse daher "als eine Folge der Unterscheidung in ein biologisches und ein soziales Geschlecht selbst betrachtet werden", da diese Differenzierung implizit dazu neige, den "biologischen Diskurs nachzuvollziehen und zu bestätigen, der die Ahistorizität physischer Körper betont". Im Grunde handelt es sich hierbei um eine Kritik, die diejenige Butlers an der Unterscheidung von "Sex" und "Gender" ergänzt, ohne dass Scott allerdings diese Affinität beziehungsweise Komplementarität zu Butler zu bemerken scheint. Anders als Butler, die Sex in Gender auflöst, vertritt die Autorin jedoch die These, dass das biologische und das soziale Geschlecht, als "komplex miteinander verflochtene Wissenssysteme begriffen werden" müssen.

Gender, moniert Scott, hat "genau den Nimbus sozialwissenschaftlicher Neutralität angenommen, der die Kategorie vom politischen Feminismus unterscheidet und ihr akademisches Ansehen garantiert". Der Begriff sei zu einer unverbindlichen Möglichkeit geworden, "zum Feminismus Stellung zu beziehen (oder auch nicht)". Der "wirklich umstrittene Begriff" sei hingegen der des Feminismus selbst. Unbestreitbar! Und dieser Begriff wird sein kritisches Potential vermutlich auf absehbare Zeit auch nicht verlieren. Das sollte jedoch nicht heißen, Gender als Analysekategorie zu verabschieden. Vielmehr muss es darum gehen - eingedenk von Scotts ebenso wie von Butlers Kritik - das kritische Potential der Analysekategorie zurückzugewinnen.

Titelbild

Claudia Honegger / Caroline Arni (Hg.): "Gender" - Die Tücken einer Theorie.
Chronos Verlag, Zürich 2001.
148 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3034005059

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