Dinnerparties, Aliens und weibliche Soldaten oder: Die schwierige Theorie der Grenzüberschreitungen

Das fünfte Jahrbuch für Frauenforschung 2000

Von Frauke NowakRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frauke Nowak

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der insgesamt sehr informative fünfte Sammelband des seit 1996 bestehenden interdisziplinären Jahrbuches "Querelles" versammelt unter dem etwas unhandlichen Titel "Transgressionen: Grenzgängerinnen des moralischen Geschlechts" mehr als ein Dutzend Beiträge von Autoren und Autorinnen verschiedener kulturwissenschaftlicher Disziplinen (u. a. Soziologie, Sozialpsychologie, Jura, Literatur-, Geschichts- und Politikwissenschaft). Die thematisch sehr heterogenen Beiträge werden von einem ausführlichen Essay der beiden Herausgeberinnen Elfi Bettinger und Angelika Ebrecht eingeleitet, der theoretische Überlegungen zum Themenschwerpunkt "Transgressionen" unternimmt und eine Systematisierung des Begriffs versucht.

Wie in jedem der jährlich erscheinenden "Querelles" besteht der Großteil der präsentierten Texte aus Aufsätzen, die allerdings nicht alle extra für den Band verfasst wurden; so erschien Judith Butlers Abhandlung zu einem filmischen Melodram der späten 50er Jahre (zu "Imitation of Life", USA 1959) im Original bereits 1990 und wurde für diesen Band ins Deutsche übersetzt. Die Aufsätze unterteilen sich in vier "und"-Rubriken: Transgression und Medialität, - und psychokulturelle Umwertungen, - und Sexualität, - und rechtliche Norm. Daneben finden sich unter der Rubrik "Fundstücke" vier Beiträge, die wenig bekannten ,Curiosa' der Wissenschafts-/Kulturgeschichte (noch einmal) ein Publikum verschaffen. Ein längeres Interview mit der US-amerikanischen Feministin, Autorin und Wissenschaftlerin Carolyn Heilbrun beschließt den Band. Die mittlerweile mit ihrer vierten Ausgabe im Internet erscheinende Rezensionszeitschrift Querelles-net.de wird hier erstmals angekündigt: die Rezensionen dieser Internetzeitschrift konzentrieren sich (im deutschsprachigen Raum einmalig?) auf Neuerscheinungen im Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung.

Der Konzeption nach verfolgt jedes Jahrbuch das Anliegen, "die Bedeutung des Geschlechterdiskurses für kulturelle Prozesse zu ermitteln". Deshalb wird auf eine fachwissenschaftliche Konturierung des thematischen Schwerpunkts verzichtet: Es geht darum, "bestimmte bedeutende kulturelle Phänomene" - in diesem Fall also ,Transgression' - interdisziplinär in den Blick zu nehmen. Was genau aber nun Transgression im Hinblick auf das Geschlecht bzw. die Geschlechter ist oder sein könnte, bleibt in der Zusammenschau der Beiträge unscharf. Es geht um Grenzüberschreitungen und -verletzungen, so viel ist klar. Was aber genau heißt das? Einige Beiträge argumentieren und analysieren - ohne den Begriff der Transgression überhaupt benutzen zu müssen - innerhalb eines binären theoretischen Koordinatensystems Mann-Frau. Transgression bezeichnet hier einerseits die Überschreitung der Geschlechtergrenzen durch bestimmte Personen in der ,gesellschaftlichen Realität'. Der Beitrag von Brunhilde Wehinger untersucht beispielsweise die gesellschaftliche Wahrnehmung und Bewertung der Transgressionen der Künstlerin Camille Claudel aus historischer Perspektive: Transgression lässt sich begreifen als gesellschaftlich inszeniertes Wahrnehmungsmuster (Claudel wird seit Anfang der 1980er Jahre als Grenzgängerin identifiziert und repräsentiert), gleichzeitig aber benennt Transgression die von Claudel selbst unternommenen Anstrengungen, sich im Kunstbetrieb zu behaupten (Wehinger spricht von Claudels ,transgressivem Projekt'). Andererseits lassen sich mit dem Stichwort Transgression (pseudo-)wissenschaftliche Diskurse kennzeichnen, durch die die Geschlechtergrenzen letztendlich neu gezogen werden. So zeigt z. B. der exzellente Artikel von Brigitte Kerchner auf, wie es gelingt, mit Hilfe der paradoxen Konstruktion der Figur der ,Sexualverbrecherin' in den Schriften von Erich Wulffen gleichsam die Landkarte der Sexualrelationen zwischen Mann und Frau neu zu zeichnen. Die Transgression benennt hier die Überschreitung der bisher geltenden Geschlechtergrenzen durch einen im juristischen Milieu situierten Diskurs, der seine wissenschaftliche Legitimation durch die Aufnahme psychoanalytischer Gedankenfiguren erhält (die unbewusste sexuelle Motivation der Verbrechen wird aufgedeckt).

Judith Butler dagegen verlässt das theoretische Koordinatensystem der binären Geschlechter und spricht vom drag und der Inszenierung dieses drags in dem Film "Imitation of Life". Damit verwendet sie einen Begriff, der die universale Beweglichkeit der Geschlechterverhältnisse auf den Punkt bringen soll und damit theoretisch festschreibt. Transgressionen sind hier im Vergleich zu o. g. Ansatz nur in einem stark relativierten Sinne möglich, da die Grenzen des Geschlechts als permanent beweglich und fließend gedacht werden sollen.

Die Herausgeberinnen selbst rekurrieren zunächst auf eine etymologische Herleitung der Bedeutung. Letztlich aber geht es um einen Aufriss der theoretischen Fundierung der präsentierten Studien. Die dabei entstehenden Schwierigkeiten spiegeln sich in der Gesamtschau der Artikel: einerseits bedeutet Transgression "the act of breaking the rules", doch zu Transgressionen werden "Grenzüberschreitungen" erst durch ihre "öffentliche Thematisierung. Nur dort, wo sie auffallen, wo ein Skandal die Abweichung markiert und sanktioniert, kann man von einer Transgression sprechen." Ist also die Verweigerung von Dinnerparties, von der Heilbrun spricht, kein Akt der Transgression? Und zeigt der Film "Alien" nun eigentlich Transgressionen oder restituiert er nur die altbekannte moralische Ordnung? Theoretische Unschärfe muss nicht unbedingt ein Nachteil sein und ist in einem interdisziplinär angelegten Sammelband sowieso unvermeidlich. Fraglich ist meiner Ansicht nach aber, ob der zweite Teil des Titels "Grenzgängerinnen des moralischen Geschlechts" nicht suggeriert, dass wir es hier mit einer scharf umrissenen wissenschaftlich spezialisierten Fragestellung zu tun haben. Mir hätte es besser gefallen, wenn man es bei dem Titel und Themenschwerpunkt "Transgressionen" belassen hätte. Damit wäre die Möglichkeit offen gehalten worden, diesen Begriff als das zu lesen, was er ist: ein Versuch, ein unübersichtliches und theoretisch schwer zu erfassendes Feld bestimmter gesellschaftlicher, medialer und wissenschaftlicher Grenzüberschreitungsphänomene zu erfassen.

Das Gespräch mit Carolyn Heilbrun belohnt alle akademischen Mühen. Sie antwortet auf die Frage nach ihren eigenen noch geplanten "transgressiven Akten": "Meine einzigen Transgressionen bestehen darin, direkt und unverblümt zu sagen, was ich meine, und das zu meinen, was ich sage, selbst wenn diese Offenheit nicht erwünscht ist. [...] Ich weigere mich, zu lügen oder zu beschönigen."

Titelbild

Elfi Bettinger / Angelika Ebrecht (Hg.): Transgressionen. Grenzgängerinnen des moralischen Geschlechts. Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung (Bd. 5).
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart / Weimar 2000.
308 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3476017559

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