Herrschaft der Digitalisierung

Paul Virilio über das 21. Jahrhundert

Von Volker DeubelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Deubel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Name Paul Virilios steht für radikale Zeit- und Medienkritik. Seine neueren Arbeiten entwerfen das Katastrophenbild einer Zeit, die im Banne totaler Digitalisierung befangen scheint: Nach dem Scheitern der totalitären Experimente des 20. Jahrhunderts werden diese, wie der Autor meint, im neuen Jahrtausend durch die Herrschaft der Digitalisierung neu aufgelegt und zu Ende geführt. Der Zugang zu den Arbeiten des Autors, die vorwiegend in französischer Sprache erscheinen, wird dem deutschsprachigen Publikum durch Übersetzungen erleichtert. Auf diese Weise hat der Hanser Verlag in der Reihe "Edition Akzente" seit den 90er Jahren mehrere Arbeiten des Autors veröffentlicht. Die jüngste Publikation dieses Typs trägt den Titel "Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung".

Das Buch enthält zwei selbständige Arbeiten, die in Frankreich bereits 1998 und '99 unter dem Titel "La bombe informatique" bzw. "Stratégie de la déception" erschienen sind. Der erste Text, entstanden zwischen 1996 und '98, skizziert Auswirkungen der 'digitalen Revolution', die mit denen der Atombombe verglichen werden; der zweite, geschrieben 1999 während des Kosovo-Kriegs, behandelt diesen als Vorboten digitaler Kriege der Zukunft. Entscheidend ist bei der Zusammenlegung der Texte ihr Gemeinsames: das Katastrophenbild der Zeit.

Auf dem Einband der deutschen Ausgabe werden die beiden Essays als "Schlüsseltexte über das verhängnisvolle Verhältnis von Digitalisierung, Macht und Medien" bezeichnet. Haben wir es wirklich mit Schlüsseltexten zu tun? Ein Blick auf die Anmerkungen ist wenig erhellend. Kaum einer der bekannteren Titel zum Informations-Zeitalter findet Erwähnung. Noch werden Theorien der Informationsgesellschaft (Überblick bei Frank Webster, "Theories of the Information Society", 1995) überhaupt genannt. Dagegen wird relativ häufig auf eigene Schriften des Autors sowie auf eine Vielzahl journalistischer Texte (Artikel aus Le Monde, Le Figaro, Financial Times, New York Times etc.) Bezug genommen. Journalistisch geben sich die Essays auch selbst; sie greifen immer wieder punktuelle Meldungen, Nachrichten, Ereignisse der Zeitgeschichte, statistische Fakten etc. auf und verknüpfen diese mit den Topoi des medienkritischen Diskurses. Wenn die Essays auch kaum eines der geläufigen Argumente auslassen, reicht dies allein, ihnen den Rang von Schlüsseltexten zu verleihen? Eher erkennt man den - etwas angestrengten - Versuch, eine Publikation zu rechtfertigen, die dem deutschsprachigen Publikum eine nicht mehr ganz aktuelle Ware empfehlen will.

Dabei scheint es eher eine spezifische Klientel und Leserschaft zu sein, auf welche der Autor abzielt. Bei aller überbordenden Negativität der "Apokalypse", die seine Analyse von Digitalisierung, Globalisierung, Amerikanisierung, Infantilisierung etc. des Zeitalters zu Tage fördert, gibt es nämlich einen Kernbestand von Grundwerten, über die er sich mit dem Publikum einig glaubt. Es ist dies gleichsam die 'Natur' des Menschlichen, von dem unter dem Druck der technologischen Entwicklung jeweils Abweichungen, Abfall und Verlust zu verzeichnen sind. Die Setzung von 'Natur' wird weder reflektiert noch explizit gemacht. Sie verrät sich lediglich in den einzelnen Negationen, aus denen ein Zusammenhang nur mosaikartig entsteht. So wird man, um dem Ganzen auf die Spur zu kommen, versuchen, einzelne Wertungen unter die Lupe zu nehmen: Bill Clinton wird - beiläufig - als "der ehebrecherische Präsident, einst Rebell und Verteidiger der Homosexuellen" apostrophiert. Organisation von "Schwulenveranstaltungen" durch den Disney-Konzern gilt - nicht weniger beiläufig - als "Porno-Werbemarkt". Wer vermutet, eine Prosa, die solche Vorurteile bedient, verweise in eher rückwärts gewandte Richtungen des wert-konservativen Lagers, wird im Prozess der Lektüre bestätigt. Zur 'Natur' gehören nämlich, wie sich herausstellt, ungefähr folgende Bestandteile: Ehe und Familie (westlicher Definition), echtes Gespräch und echte Begegnung, die traditionellen Kulturtechniken (echtes Lesen und Schreiben), regional gebundene Gesellschaft, sowie - in der Arena des Politischen - nationaler Staat und echte politische Rhetorik. Nicht zu vergessen echte Kunst, die streng am Mimesis-Konzept ausgerichtet ist. Denn die ästhetische Krise der Zeit besteht nach Virilio darin, dass die moderne Kunst es aufgegeben habe, "das Antlitz der Welt darzustellen" und sich stattdessen entweder in Hyperrealismus oder Abstraktion und Experiment verrannt habe. Womit dann auch das Urteil über große Teile der Moderne gesprochen wäre.

So ist die Ausbeute von Virilios kritischen Breitseiten gegen das digitale Zeitalter eher gering. Ideen über eine zukunftweisende Gestaltung der neuen Potenziale (vgl. etwa Mihai Nadin, "Jenseits der Schriftkultur") sucht man hier vergebens. Bleibt zu erwähnen, wenn auch nur als Marginalie unter der Rubrik 'Ironie der Digitalisierung', dass dem totalen Kritiker der Digitalisierung diese doch selbst zugute kommt. So findet sich im Internet zum Namen Virilio eine Vielzahl von Angeboten. Neben (positiven!) Rezensionen sind auch einige der Arbeiten nachzulesen. Besonderes Interesse verdient ein Gespräch des Autors mit Friedrich Kittler zum Thema "Informationsbombe", das die wesentlichen Inhalte versammelt und erheblich konziser formuliert ist als die etwas weitläufige und manchmal schwer verständliche Prosa der Buch-Publikation.

Titelbild

Paul Virilio: Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung.
Übersetzt aus dem Französischen von Bernd Wilczek.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
224 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3446198601

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