Hat die Neue Orthodoxie braune Wurzeln?

Rüdiger Hohls und Konrad H. Jarausch beleuchten in "Versäumte Fragen" Historiker im Nationalsozialismus

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn gerade Historiker, deren Aufgabe die möglichst objektive Darstellung der Vergangenheit ist, in den Verdacht geraten, sich mit der Geschichte des eigenen Fachs nicht oder nicht kritisch genug auseinander gesetzt zu haben. Umso mehr muss es verwundern, wenn sich dieser Vorwurf gegen über jeden Verdacht der NS-Apologie erhabene Wissenschaftler wie Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka oder Hans und Wolfgang J. Mommsen richtet. Diese hätten - so ihre Kritiker - es nicht nur versäumt, ihre Doktorväter über deren Wirken während des Nationalsozialismus zu befragen, sondern arbeiteten auch zum Teil mit wissenschaftlichen Methoden, deren Wurzeln in den 1930er Jahren zu finden seien. Im Mittelpunkt dieser Diskussion, die 1998 auf dem Frankfurter Historikertag eskalierte, standen somit erstens zwei der Gründerväter der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft, Werner Conze und Theodor Schieder und deren Rolle in der nationalsozialistischen Zeit, zweitens ihre inzwischen nicht nur etablierten, sondern zum Teil bereits wieder emeritierten Schüler (eben Wehler, Kocka und andere) und drittens die angeblich "völkisch" kontaminierte Sozialgeschichte.

Viele interessante Fragen also, die den Berliner Historiker Rüdiger Hohls und seinen Potsdamer Kollegen Konrad H. Jarausch dazu bewogen, die "Mitgestalter und Meinungsführer der bundesdeutschen (Neuzeit-)Geschichtswissenschaft der 70er bis 90er Jahre", von denen viele Schüler und später Mitarbeiter von Conze und Schieder gewesen waren, befragen zu lassen. Sie sollten indessen nicht nur zu den umstrittenen Fragen Stellung nehmen, sondern auch über ihren eigenen wissenschaftlichen Weg Auskunft geben.

Die These Götz Alys, dass Conze und Schieder als "Vordenker der Vernichtung" zu betrachten seien, lehnen die Befragten durchweg ab; doch erscheint ihnen die Bezeichnung "Mitläufer" ebenso wenig passend. Meist verweisen sie auf Berührungspunkte zwischen den nationalsozialistischen Positionen einerseits und der "nationalkonservativen", "jungkonservativen" oder "bündischen" Haltung vieler Historiker andererseits. Die Übereinstimmung mit dem Regime etwa in außenpolitischen Fragen wird nicht bestritten, in rasseideologischen Fragen hingegen habe es deutliche Trennlinien gegeben.

Weniger einheitlich äußern sich die Interviewten zu der von Hans-Ulrich Wehler aufgeworfenen und bejahten Frage, ob intellektuelle "Entgleisungen" - ob in Form von Politikberatung oder regimekonformen Publikationen - durch die wissenschaftliche Leistung nach 1945 "kompensiert" werden könnten. Wehler erfährt hier überraschenderweise Unterstützung von Michael Stürmer, einem seiner Kontrahenten im "Historikerstreit". Insgesamt überwiegt jedoch die Ansicht, man müsse die verschiedenen Lebensabschnitte mit all ihren Brüchen akzeptieren, ohne sie gegeneinander aufrechnen zu können.

Gerade Protagonisten einer "kritischen Geschichtswissenschaft", denen so mancher Fachkollege unterstellte, den Beruf des Historikers mit dem des Staatsanwalts verwechselt zu haben, muss der Vorwurf treffen, gegenüber ihren Lehrern aus Opportunismus auf kritische Fragen verzichtet zu haben. Vermag der Verweis auf die hierarchischen Strukturen und das letztlich, trotz aller Unterstützung für die Schüler, eher autoritäre Gebaren der Lehrer nicht restlos zu befriedigen, so liefert er doch für manche "versäumten Fragen" eine einleuchtende Erklärung. Nicht zu vergessen ist ferner, dass Conze und Schieder nicht nur als sehr innovativ galten, sondern sich auch überaus tolerant gegenüber ihren Schülern verhielten, wenn diese sich methodisch oder politisch von ihnen entfernten.

Einigkeit herrscht bezüglich der These von den "braunen Wurzeln" der Sozialgeschichte; sie wird - nicht nur von Sozialhistorikern - durchweg abgelehnt. Zum einen verweist man auf den Einfluss von Emigranten wie vor allem Hans Rosenberg und auf die überragende Bedeutung der Theorien von Karl Marx und Max Weber, zum anderen sei zwischen den angewandten Methoden und der politischen Zielsetzung der Volksgeschichte, der angeblichen Vorläuferin der Sozialgeschichte, zu unterscheiden.

Zweifellos handelt es sich bei den siebzehn Interviews um einen wichtigen Beitrag zu der Debatte über die Rolle der deutschen Historiker im Nationalsozialismus. Dennoch ist die Lektüre wegen manch ausweichender oder floskelhafter Antworten nicht immer befriedigend, was wohl hauptsächlich daran liegt, dass die Historiker sich mehr als Zeitzeugen denn als Wissenschaftler äußern. Uneingeschränkt empfehlenswert ist das Buch trotzdem - wegen des Einblicks in Lebensläufe ebenso wie aufgrund der atmosphärisch dichten Darstellung des Universitätslebens in den 1950er und 1960er Jahren. Vor allem aber lässt es die in der deutschen Geschichtswissenschaft existierenden Konfliktlinien deutlich hervortreten, wenn etwa Imanuel Geiss die Illiberalität der "Neuen Orthodoxie" (worunter er die Protagonisten der "Sonderwegsthese" sowie Ernst Noltes Gegner im "Historikerstreit" subsumiert) beklagt oder Michael Stürmer - gewohnt überpointiert - die angebliche Fixierung vieler seiner Kollegen auf den Nationalsozialismus kritisiert. Die Kenntnis solcher Positionen kann viel zum besseren Verständnis der Werke dieser Historiker beitragen, weshalb das Buch gerade auch für Studenten nützlich ist. Das gilt ebenso für den umfangreichen Anhang: Er enthält nicht nur zahlreiche Historiker-Kurzbiographien, sondern auch viele Informationen über außeruniversitäre historische Forschungsinstitutionen sowie über Fachzeitschriften und erfüllt deshalb fast schon die Funktion eines Lexikons.

Somit beantwortet das Buch zwar nicht alle in ihm gestellten Fragen, aber dafür viele interessante und wichtige, die über das eigentliche Thema hinausgehen. Daher sollte man seine Lektüre nicht versäumen.

Titelbild

Rüdiger Hohls / Konrad H. Jahrausch (Hg.): Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2000.
528 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3421053413

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