Epigonalität als produktives Vermögen

Markus Fausers Beitrag zur Poetik der Intertextualität

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Begriff der Epigonalität ist, wie Wertung überhaupt, von jeher problematisch gewesen. Das wird besonders dort spürbar, wo ein hochrangiger Autor wie Heinrich Heine glaubt, nicht aus dem übermächtigen Goethe-Schatten heraustreten zu können. Hier wird nämlich deutlich, dass die Rede von der Epigonalität bildhaft ist und eine Relation bestimmt, nicht aber einen absoluten Standpunkt. Somit bezeichnet Epigonalität in der ästhetischen Theorie auch nicht bloß die unschöpferische Nachahmung eines originären Kunstwerkes - dies wäre nur die ältere Begriffsverwendung, die eng mit dem Genie-Begriff der Goethezeit korreliert ist und die ästhetische Abhängigkeit von einem freien Schöpfersubjekt bezeichnet, das seinerseits keiner Regelpoetik und keiner überkommenen Norm unterworfen ist, sondern aus sich heraus produktiv schafft. Im Gegensatz dazu umfasst Epigonalität auch das produktive Vermögen dessen, der in einer Tradition steht und arbeitet. Gert Mattenklott hat diese These in seinem Aufsatz "Das Epigonale - eine Form der Phantasie" (1984) überzeugend vertreten, Matthias Kamann hat mit seiner Dissertation "Epigonalität als ästhetisches Vermögen" (1994) Mattenklotts These ausgeführt und auf Grabbe, Immermann, Platen, Raabe und Stifter appliziert.

Beiden folgt nun Markus Fauser nach, und sein Hauptbezugsautor ist wiederum der Düsseldorfer Romancier und Dramatiker Karl Leberecht Immermann (1796-1840), der sein umfangreiches Hauptwerk, die "Familienmemoiren in neun Büchern" schlichtweg "Die Epigonen" (1836) nannte und damit zum Inbegriff des produktiven Afterpoeten wurde. "Die große Bewegung des Geistes", heißt es dort, "welche unsre Väter von ihren Hütten und Hüttchen aus unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zugeführt, welche nun auf allen Markttischen ausliegen." Immermann zufolge ist "jede Kunst" eine "historische Erscheinung" mit einem Traditionsbezug, welcher jedoch einen "Traditionsbruch" impliziert, da "die Modernen nicht mehr mit den Augen der Alten sehen" könnten.

"Mangel an Selbständigkeit", so Markus Fauser in seinem Buch "Intertextualität als Poetik des Epigonalen", das im Untertitel als "Immermann-Studien" firmiert, steht dem Schreiben nicht entgegen, im Gegenteil: Schreiben ist - wie jedes "literarische Handeln" - Arbeit am kulturellen "Gedächtnis" und kann Produktivität stärken und legitimieren: "Die Poetik des Epigonalen", so Fauser in seiner Einführung in den Historismus, macht als "Gedächtniskunst" Texte transparent für das "fest im kulturellen Wissen Verankerte" und ist "selbst ein Paradigma dafür, wie Individualität im Kopierverfahren gewonnen wird."

Am Beispiel Immermanns entwickelt Fauser eine "Reminiszenzpoetik", welche die Schreibweisen eines Œuvres als "Gedächtnisbilder" versteht, die der Autor als Leser aufgenommen, produktiv "erinnert" und damit reproduziert hat. Der Memoria-Begriff ist hierbei ebenso einschlägig wie der Bild-Begriff, wie der Anhang demonstriert: Hier wird eine Auswahl von Kupferstichen, Radierungen etc. reproduziert, auf die Fauser im 5. Kapitel seiner Studie zu sprechen kommt. Die Intermedialität, sprich der Umgang mit der bildenden Kunst, entspricht der Historisierung ebenso wie der Musealisierung der literarischen Stoffe, auf die Immermann zurückgreift, deren Traditionslinien er fortsetzt, deren historische Entwicklung der Text sichtbar und transparent macht, der dem Leser (wie dem Besucher öffentlicher Kunst-Räume) Zusammenhänge erschließt und damit dem Transparenz-Ideal der Poetik des Epigonalen ein Stück näher kommt:

In deinem Saale belauscht' ich dich jüngst,

Wo der Farnesina Gedicht,

Heiter nachgebildet,

Lacht von glänzendgetünchter Wand.

("Tödliche Ahnung", 1. Strophe, 1835)

Im Bild-Gedicht erblickt das betrachtende Ich die Geliebte in der mit Raffael-Fresken ausgemalten Villa Farnesina. Die Entstehung des Bildes wird in der Imagination vorgeführt und erzählerisch inszeniert. Der Realitätsstatus des Bildes für die dargestellte Welt ist dabei immer prekär und öffnet einen Reflexionsraum, durch den sich die Autopoiesis des Erzählens manifestieren kann, die für eine Poetik des Epigonalen konstitutiv ist. (Übrigens auch für eine Poetik der Moderne.) An die Seite von Kunst-Bildern treten bei Immermann Geschichtsbilder wie der Freiheitskampf Andreas Hofers, den Immermann mit einem Trauerspiel von 1833/1835 würdigt. Die Akte sind dabei in "Bilderfolgen" gegliedert, die einem Bilderzyklus ähneln.

Markus Fausers Studie ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten wird die "permanent reflektierte Historizität" der epigonalen Poetik dargestellt, im zweiten geht es um die materialen Voraussetzungen des Historismus. Fauser analysiert zunächst Immermann-Gedichte im Kontext der Spätromantik und beschreibt sie als Umschriften, als Kontrafakturen, die den Diskurs-, Gattungs- und Registerwechsel, den Sprach- und Stimmentransfer vom zitierten zum zitierenden Text auf einer breiten Materialbasis vollziehen und damit das Weiterschreiben sicherstellen. Diese Materialbasis, die Menge der Referenztexte, wird von Fauser eindrucksvoll rekonstruiert. Hingegen fällt die Analyse der Immermann'schen "Kontrafakturen" selbst zu flüchtig aus, so als stünde die These außer Frage und erübrige den textanalytischen Befund. Textanalyse ist ohnehin nicht Fausers Stärke, was sich nicht zuletzt an der partiell unbeholfenen, verunklarenden Metaphorik zeigen lässt: Da werden Stücke 'miteinander verschmolzen', da 'verschwimmen' Präteritum und Präsens, da sind Erzählperspektiven 'mehrfach verwoben'.

Wie die ältere Motivforschung gibt sich Fauser mit der Bestimmung des Materials, des "Themas" zufrieden. Er untersucht die Referenz auf Einzeltexte (intertextuelle Rekurrenz), Diskurse (diskursive Rekurrenz) und Prätexte (prätextuelle Rekurrenz). Am anspruchsvollsten ist die dritte Kategorie erarbeitet, denn hier wird auf ein abstrahiertes Modell referiert, auf den Bildungsroman etwa oder das Schicksalsdrama (dem sich das 3. Kapitel widmet). Immermanns komisches Epos "Tulifäntchen" (1830) gehört zu den bekanntesten und meistgedruckten Einzelwerken des Autors. Hier demonstriert Fauser, wie die Mehrfachkodierung einer prätextuellen Rekurrenz hinsichtlich Epos, Schicksalsdrama, Romanze oder Kunstmärchen funktioniert und welche Folgerungen aus der Selbstreferenz des Textes abzuleiten sind. Immermanns ambivalentes Verhältnis zu Goethe thematisiert Fauser in seinem "Merlin"-Kapitel. "Merlin", im Untertitel "Eine Mythe" genannt, erscheint in Goethes Todesjahr, spielt offensichtlich auf den "Faust", auf Tiecks "Kaiser Octavian" und auf das "Roland"-Bild Julius Benno Hübners an. Die Einzeltextreferenz wird am Beispiel Shakespeares erörtert, des für Goethe und seine Zeit maßgeblichen Autors, der auch noch für Immermann und seine Zeitgenossen prägend ist. Shakespeares "Sommernachtstraum" gehört neben Jacob Ayrers "Comedia von zweyen fürstlichen Räten" (1618) zu den Hauptbezugstexten von Immermanns Komödie "Das Auge der Liebe" (1824) und bildet mit ihr eine "strukturelle Homologie", und zwar jenseits einzelner Aspekte wie der Topik, der Ereignisstruktur und der Entlehnung von Figuren. Schließlich mündet Fausers Arbeit in die Analyse des "Münchhausen"-Romans (1838-1840) und der "Epigonen". Literarische Individualität ergibt sich hier gerade aus Anspielung, Reminiszenz und Zitat, aus Chronologie, Erinnerung und Historie, aus der "Übermacht des Vorgeprägten", gegen die sich das neuschöpferische Subjekt zu behaupten hat.

Titelbild

Markus Fauser: Intertextualität als Poetik des Epigonalen. Immermann-Studien.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
444 Seiten, 55,20 EUR.
ISBN-10: 3770533720

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