Biographie: Mehr als ein Spiel

Die "Deutsche Biographische Enzyklopädie" von Killy/Vierhaus im Deutschen Taschenbuch Verlag

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Diese Biographische Enzyklopädie ist bestrebt, über möglichst viele Personen Auskunft zu geben, die (in welchem Lebenskreis auch immer) auf ihre eigene Zeit eingewirkt haben und dieser wichtig geworden sind, ob sie nun regierende Häupter waren, oder deren Schloßbaumeister, oder Minister, oder ein einstmals berühmter Arzt, oder Kaufherren, oder auch 'nur' der Tischlermeister, dessen Name heute noch neben dem großer Künstler besteht. Kein Lebenskreis sollte ausgeschlossen sein."

Spätestens seit Ludwig Tiecks Bildungsroman "Der junge Tischlermeister" (1836) ist uns bewusst, dass auch begnadete Handwerker Künstler sein und eine musische oder wissenschaftliche Begabung haben können. Deshalb müssen alle Stände und Berufsstände in einem biographischen Lexikon Berücksichtigung finden. Solche Lexika müssen auch immer wieder anders konzipiert und immer wieder neu geschrieben werden, weil sich mit der Gesellschaft auch der Bereich des kulturellen Wissens ändert, das also, was ihr als beachtens- und bewahrenswert gilt.

"Eine idiotische Geschichte", sagt Kürmann in Max Frischs Stück "Biographie: Ein Spiel", und wählt sich eine andere Biographie. "Das hier ist Ihr Leben, das Sie bisher gelebt haben", sagt der Registrator und fährt fort: "Ein Leben, das sich sehen lassen darf." Der Registrator meint ironisch, was jedes Lexikon ernst nehmen muss: die wichtigsten Lebensdaten einer prägenden Persönlichkeit, ihre wichtigsten Erfolge und Einflüsse entsprechend ihrer Bedeutung zu gewichten und darzustellen.

Das größte Unternehmen dieser Art stellt in unserem Sprachraum die "Allgemeine Deutsche Biographie" dar, die mehr als 26.000 Lebensläufe enthält, jedoch längst veraltet und epistemisch noch dem 19. Jahrhundert verpflichtet ist. Auch dürfte sie mit ihren 56 Bänden nahezu unerschwinglich sein und jede Privatbibliothek überfordern. Daher erarbeitet der Buchmarkt spezialisierte Nachschlagewerke (Künstler- und Dichterlexika etcetera) und Enzyklopädien, die das Wissenswerte in kondensierter Form aufbereiten. Die von Walther Killy herausgegebene und nach dessen Tod von Rudolf Vierhaus fortgeführte "Deutsche Biographische Enzyklopädie" (DBE) geht da einen interessanten Mittelweg.

Sie ist nicht vollkommen neu aus den Quellen erarbeitet, sondern greift in der Mehrzahl ihrer Einträge auf andere allgemeine und spezialisierte biographische Lexika zurück. Es scheint mir dies eine pragmatische und sinnvolle Lösung zu sein, dass man das vorhandene Material ausgewertet hat und nur dort neue Artikel erarbeiten ließ, wo man neu gewichten und andere Akzente setzen wollte. Zu den wichtigsten Quellen der DBE gehören daher enzyklopädische Werke wie die "Allgemeine Deutsche Biographie", das Munzinger-Archiv, die "Neue Österreichische Biographie", Albert Haucks "Real-Encyclopädie für protestantische Theologie und Kirche" (1896-1913) oder Friedrich Blumes allgemeine Enzyklopädie der Musik, die berühmte "MGG" (1949-1976).

Ferner zählen Speziallexika wie Elke Mühlleitners "Biographisches Lexikon der Psychoanalyse" (1992) zu den Basisquellen der DBE. Zu nennen wären auch das "Metzler-Philosophen-Lexikon", Kurt Priesdorfs zehnbändige (!) Enzyklopädie "Soldatisches Führertum" (1937-1942) oder "Ärzte in Ost- und Westpreußen" (1970), herausgegeben von Harry Scholz und Paul Schroeder. Der nützlichen und zugleich verblüffenden Kuriosa auf dem Gebiet der Biographik sind keine Grenzen gesetzt.

Aus dieser Literatur schöpft die ADB Einträge über 1. "historische Personen, die von weitreichender, auch für nachfolgende Jahre erheblicher Bedeutung gewesen sind", sowie 2. Daten von Personen, "die für das einstmals zeitgenössische vergangene Leben bemerkenswert waren und aus der Geschichte (des öffentlichen Lebens; der jeweiligen Disziplin; der Künste) nicht wegzudenken sind" (Vorwort). Dieser Kategorie werden rund 59.000 Einträge zugerechnet. Das Piktogramm eines aufgeschlagenen Buchs und eine Literatursigle am Ende der Einträge verweisen auf das jeweils ausgewertete Standardwerk. Bei zahllosen Beiträgen ist aber auch gar keine Quelle angegeben (beim Stichwort Wegner zum Beispiel, Band 10). Beim Eintrag über den baltendeutschen Schriftsteller Frank Thiess handelt es sich um eine Übernahme aus Walther Killys "Literatur-Lexikon", das zwischen 1988 und 1992 für Bertelsmann erarbeitet wurde. Der Eintrag ist namentlich nicht gezeichnet, geht jedoch auf Helmut Pfanner zurück und wurde für die ADB von circa 6.600 Zeichen auf circa 1.560 Zeichen heruntergekürzt - auf ein Viertel der ursprünglichen Länge also. Mit dieser Kürzung geht eine gewisse Dürftigkeit einher: Zwar ist zu erfahren, dass Thiess ein führender Vertreter der 'Inneren Emigration' gewesen ist, doch sein literaturgeschichtlich wichtiger Streit mit Thomas Mann kann daraus nicht ersehen werden.

Die eigens für die DBE verfassten Artikel sind fast ausnahmslos deutlich länger als die (größtenteils gekürzten) Übernahmen aus anderen Nachschlagewerken. Dadurch ergeben sich Akzentuierungen, aber auch Ungleichgewichte. Doch auch der Platz, der den exklusiv für dieses Lexikon geschriebenen Artikeln eingeräumt wird, kann stark variieren. So bekommt Wolfram von Eschenbach (Joachim Heinzle) eine Spalte, während Jakob Wassermann (Gabriella Rovagnati) knapp zwei bekommt und Johann Joachim Winckelmann (Helmut Sichtermann) knapp drei. Zu Eschenbach gibt es kaum biographisches Wissen, bei Wassermann und Winckelmann fasert die biographische Darstellung in Werkdarstellung aus.

Für diese Lemmata konnte das Herausgebergremium kompetente Fachgelehrte gewinnen. Hans-Albrecht Koch etwa stellt nebst einigen Schriftstellern vor allem Philologen wie Max Wehrli, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf und Ernst Zinn vor. Wolfram Göbel portraitiert die Verlegerpersönlichkeit Kurt Wolff. Michael Hagner konzentriert sich auf Mediziner und Naturkundler wie Jan Evangelista Purkynê, der bahnbrechend zur "Kenntnis des Sehens" geforscht hat, oder Caspar Friedrich Wolff, der im 18. Jahrhundert für die Epigenesis als Bildungsprinzip von Lebewesen warb und seine Theorie durch Experimente zu stützen suchte.

Manche Artikel, dies bleibt nicht aus, sind auch laienhaft, wenn nicht fehlerhaft verfasst, wie zum Beispiel der nicht namentlich gezeichnete und auch nicht sonderlich inspirierte Beitrag über den Graphiker Willy Fleckhaus. Fleckhaus hat nicht, wie es dort heißt, die "Weiße Reihe" für den Suhrkamp Verlag graphisch gestaltet, sondern das "Weiße Programm", also eine zeitlich und auf Backlisttitel des Verlages begrenzte Verkaufsaktion. Ein feiner, aber sachlich relevanter Unterschied. Bedauerlich ist, dass der Deutsche Taschenbuch Verlag nur zehn der zwölf Bände der DBE anbietet. Der Original-Verlag, K. G. Saur in München, hat im vergangenen Jahr nämlich noch zwei Nachtragsbände vorgelegt, die wichtige Biographien kürzlich verstorbener Persönlichkeiten umfassen, darunter von Leuten wie Andreas Baader, Sergiu Celibidache, Kai-Uwe von Hassel, Josef Pieper, Gregor von Rezzori, Günter Strack und Grete Weil. Zudem bieten diese Nachtragsbände notwendige Corrigenda zu den ersten zehn Bänden, ein Verzeichnis der Autoren, ein Verzeichnis der namentlich gezeichneten Beiträge sowie ein Personenregister. Unverzichtbare Elemente eines solch verdienstvollen Lexikons.

Titelbild

Walther Killy / Rudolf Vierhaus: Deutsche Biographische Enzyklopädie. 10 Bände.
dtv Verlag, München 2001.
6.856 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 342359053X

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