Die Poetik privater Geschichte

Oliver Fischers Studien zum erzählerischen Werk von Stifter und Raabe

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oliver Fischer untersucht in seiner an der Universität München entstandenen Dissertation die Poetik privater Geschichte bei Adalbert Stifter und Wilhelm Raabe. Dabei versteht er unter privater Geschichte weder eine Geschichte des Privaten noch autobiographisches Schreiben an sich, sondern die Fiktion autobiographischen Schreibens, innerhalb der der Schreibende als literarische Figur gestaltet wird.

Fischer grenzt zunächst den von ihm formulierten Begriff der privaten Geschichte von poetologischen Termini wie Autobiographie und Historiographie ab und weist ihn der literarischen Gattung des Romans als dem genuinen Medium der Herausbildung bürgerlicher Subjektivität im 19. Jahrhundert zu. Private Geschichte widme sich der Verwechslung der Ebenen von Leben und Schrift, gehe also der Frage nach, ob ein Lebensmodell erzählt werde oder ob nicht ein Erzählmodell dessen Funktion übernehme. Von dort gelangt der Verfasser über Goethe und Jean Paul, in denen er experimentelle Vorläufer erkennt, zu Stifter und Raabe, den beiden Kernautoren seiner Studie. Bleibt private Geschichte bei Goethe und Jean Paul ein rein ästhetisches Unterfangen, das auf die Hervorbringung eines bereits vorhandenen inneren, höheren Menschen abzielt, so steht bei Stifter die Schrift als Spiegel und Katalysator individueller Charakterbildung im Vordergrund, während Raabe einen stets gefährdeten oder bereits verlorenen privaten Raum entwirft, der als zentraler Ort des Geschehens nur noch in der Schrift verortet werden kann.

Stifters poetisches Verfahren kennzeichnet Fischer mit den Begriffen Reduktion und Analogie. Anhand der vier verschiedenen Fassungen der "Mappe meines Urgroßvaters" - die Forschung unterscheidet zwischen der "Urmappe" (erschienen 1841/42), der "Studienmappe" (1847) und der "Letzten Mappe" (entstanden 1864, erschienen 1870); die vierte Mappe blieb unvollendet - weist Fischer nicht nur die Prozesshaftigkeit der Konstitution biographischer Wahrheiten nach, sondern auch die grundlegende Rhetorizität des gesamten Unternehmens. Im Zentrum privater Geschichte bei Stifter steht die Bewährung des Subjekts durch Reduktion alles Unkalkulierbaren in seinem Wesen. Das Mittel dazu liegt in der Anwendung der Lebensaufzeichnungen, die immer dann ins Spiel kommen, wenn sich Krisen abzeichnen. Private Geschichte benutzt Schrift einerseits als Erziehungsfunktion, unterwirft sich andererseits aber dem Begriff der Geschichte mit der Konsequenz, dass es keinen anderen historischen Sinn geben kann als den, der sich auf der elementaren Ebene menschlichen Lebens entfaltet. Geschichte hebt sich damit in ihrer Prozesshaftigkeit selbst auf, ihr Erzähltwerden bedeutet zugleich ihre Beendigung. Fischer zeigt Stifters poetische Verfahrensweise, die Konstanz des Schreibens sowie die ihm zugewiesene Funktion anhand detaillierter Textanalysen auf, die nicht nur die "Mappe", sondern auch ausgewählte Passagen der "Narrenburg" und aus den großen Romanen "Der Nachsommer" und "Witiko" in den Blick nehmen.

Dem Ideal der Ordnung, das Fischer als zentrales Moment der Stifter'schen Werke identifiziert, stellt Raabe mit dem Versuch, zwischen Anpassung und Abweichung einen Raum eigener Geschichte zu entwerfen, ein völlig anderes Konzept gegenüber. Private Geschichte bleibe bei Raabe, so Fischer, stets auf einen singulären Schreibakt beschränkt. Obwohl sich schon im Frühwerk (u. a. "Die Chronik der Sperlingsgasse") schreibende Erzählerfiguren ausmachen ließen, sei dieser Typus vor allem in den nach 1870 entstandenen Texten der Braunschweiger Zeit ("Pfisters Mühle", "Stopfkuchen", "Die Akten des Vogelsangs", "Altershausen") zu finden. Vier thematische Schwerpunkte seien dabei für Raabes Konzept privater Geschichte bestimmend: die Bedeutung der Kindheit für die Beziehungen der Figuren untereinander, die Idee der Nation als Gegenentwurf zur deutschen Kleinstaaterei und zu dem nach 1871 etablierten Nationalstaat, die Zuverlässigkeit bzw. Glaubwürdigkeit von Erzähler und Erzähltem sowie die durch die Industrialisierung sichtbarer werdenden Tendenzen der Modernisierung.

Oliver Fischer behandelt in seiner Studie ein anspruchsvolles Thema mit bemerkenswerter Souveränität. Letztere basiert auf der gründlichen Kenntnis sowohl der literarischen Texte als auch der Forschungsliteratur. Ob sich der Begriff "private Geschichte" als literaturwissenschaftlicher Terminus etablieren kann, bleibt abzuwarten. Der kenntnisreichen Studie jedenfalls wäre eine breite Rezeption in der Realismus-Forschung zu wünschen.

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Oliver Fischer: Ins Leben geschrieben - Zäsuren und Revisionen. Poetik privater Geschichte bei Adalbert Stifter und Wilhelm Raabe.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1999.
334 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3826015975

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