Unmoralisch

Michel Houellebecqs Roman "Elementarteilchen" im Taschenbuch

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Elementarteilchen", heißt es auf Seite zwei der List-Taschenbuch-Ausgabe, sei "der unmoralische Roman eines großen Moralisten", sei ein Zeitbild des ausgehenden 20. Jahrhunderts: "Präzise und sachlich berichtet Michel Houellebecq vom glücklichen Leben der Halbbrüder Bruno und Michel. Ihre Mutter, eine radikale Jüngerin der 68er-Ideale, widmet sich ganz ihrer sexuellen Selbstverwirklichung und sorgt so dafür, dass das Leben ihrer Söhne von kalter Einsamkeit geprägt ist. [Absatz] Bruno, der Ältere, wird zum Opfer seiner verzweifelten sexuellen Obsession. Michel ist Molekularbiologe und verbringt sein autistisches Forscherleben zwischen Supermarkt und Psychopharmaka, bis er in einem gentechnischen Institut in Irland das unsterbliche und geschlechtslose menschliche Wesen klont - eine Vision jenseits von Egoismus und sexuellem Elend. Mit Michel und Bruno entwirft Michel Houellebecq zwei Lebensläufe am 'Ende der alten Ordnung'."

Was wissen Taschenbuchverlage, in diesem Fall List als Lizenznehmer des DuMont Buchverlages, über das Produkt, das sie übernommen haben, um es zu vermarkten? Hier offenbar wenig. Und wie gehen sie in Verlagstexten mit Sprache um, wenn sie ihr Produkt vermitteln wollen? Nicht sehr kompetent, wie es scheint.

"Elementarteilchen" ist ein Roman, eine Fiktion, eine Erfindung des Autors Michel Houellebecq. Infolgedessen kann er nicht aus dem Leben seiner Figuren 'berichten', und er kann dies auch nicht mit 'Präzision' und 'Sachlichkeit' tun. Er kann Lebensläufe entwerfen, und er kann seiner Darstellung die Anmutung von Sachlichkeit und Präzision verleihen. Von dieser Sachlichkeit und Präzision würde man auch dem Verlagstext ein Quäntchen gönnen. Denn Janine, die Mutter von Bruno und Michel, repräsentiert keineswegs die Ideale von 1968, wohl aber bestimmte Aspekte von New Age - und ihr Lebensgefährte verkehrt mit Leuten wie Carlos Castaneda und Aldous Huxley. Sie selbst ist 1928 geboren und zu alt für die 68er. Sie hat bereits in den 40er Jahren in Paris studiert, hat keine politische Vergangenheit und lebt in den Tagen der Revolte in Kalifornien. Sie hält die französische Jugend für verklemmt und kehrt erst 1970 nach Frankreich zurück, um an der Côte d'Azur zu leben.

Zu ihren Söhnen hat sie so gut wie keine Verbindung, "sorgt" also auch nicht dafür, dass ihr Leben "von kalter Einsamkeit geprägt" ist. Michel, der jüngere, wächst bei der Großmutter väterlicherseits im ländlichen Charny auf. Sein "Reich der Kindheit" wird als erfüllt dargestellt: Hervorragende schulische Leistungen, an denen er seine Klassenkameraden teilhaben lässt, intensive sinnliche Erfahrungen in der ländlichen Idylle sowie geistige Sensationen durch Lektüren ("Das ganze Universum") prägen seine alles in allem glückliche Kindheit. Früh entwickelt er für seine Handlungen Maximen und ethische Kriterien. Sein älterer Bruder Bruno hingegen wächst bei seiner Großmutter mütterlicherseits in Algier und Marseille auf, bevor er ins Internat kommt und in der Tat ein Leben in Kälte und Einsamkeit kennenlernt.

Brunos Kindheit und Jugend ist von seelischen und sexuellen Nöten dominiert; Annick, seine erste Freundin, bringt sich um, noch ehe die Beziehung sich entwickeln konnte. Jahre später sucht er, inzwischen verheiratet und Vater eines Sohnes, Hilfe bei einem Psychiater. Sein Bruder Michel lebt zwar allein, führt jedoch kein "autistisches Forscherleben". Sein Institut im "Milieu der Molekularbiologen" hat er auf einen der ersten Ränge in Europa geführt. Er ist weder psychisch krank noch abhängig von Psychopharmaka; einmal nimmt er Xanax ein, als er nicht einschlafen kann. Einen Besuch im Supermarkt habe ich nicht registriert. Aufgrund einer "theoretischen Krise" lässt er sich beurlauben, doch bald schon ist er zuversichtlich, seine Forschungsarbeit wieder aufnehmen zu können. Er lässt sich nach Galway versetzen, fasziniert von diesem "äußersten Zipfel der westlichen Welt". Michel kann seine große Forschungsarbeit beenden - und findet, wie es heißt, "eine gewisse Seelenruhe". Sein Verschwinden bleibt rätselhaft: "Wir glauben, dass Michel Djerzinski ins Meer gegangen ist", heißt es gegen Ende. Sein Lebensziel, eine "neue, vernunftbegabte Spezies zu schaffen" und den Fortpflanzungsmodus ohne Preisgabe der "sexuellen Lust" aufzuheben, hat er erreicht. Ist das "der unmoralische Roman eines großen Moralisten"?

Titelbild

Michel Houellebecq: Elementarteilchen. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Uli Wittmann.
Ullstein Taschenbuchverlag, München 2001.
358 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 3548600808

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