Ewige Tochter und mütterliche Freundin

Der Briefwechsel zwischen Anna Freud und Lou Andreas-Salomé

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Warum trifft keiner, es so wie Papa zu machen" - wer anders in der psychoanalytischen Bewegung könnte diesen Stoßseufzer ausstoßen als Anna Freud, die ewige Tochter, die nicht einmal versuchte, sich vom übermächtigen Vater zu lösen? Die Klage findet sich in einem Brief an Lou Andreas-Salomé aus dem Jahre 1925, mit der Anna Freud sich in der Wertschätzung "Papas" einig wusste. "Wo ist ein zweiter Mensch, dem mein Leben so viel verdankt wie Deinem Vater", schrieb Salomé ihrerseits emphatisch.

Der Briefwechsel der beiden Psychoanalytikerinnen wurde nun, knapp zwanzig Jahre nach dem Tode Anna Freuds, von Daria A. Rothe und Inge Weber herausgegeben. Die ersten Briefe datieren aus dem Jahre 1919, der letzte von 1937, dem Todesjahr Salomés. Beide Frauen schreiben angenehm leicht, insbesondere Andreas-Salomé merkt man die literarisch geübte Feder an.

Die Korrespondenz ist vor allem in den Anfangsjahren durch den beträchtlichen Altersunterschied geprägt. Zur Zeit der ersten Briefe ist Anna Freud gerade mal 26 Jahre alt, Andreas-Salomé hingegen bereits 60, so dass sie von Beginn an die Rolle einer mütterlichen Freundin innehat, die ihr wohl auch von Sigmund Freud zugedacht gewesen war, der die Bekanntschaft beider initiiert hatte.

Die Warmherzigkeit, mit der die Korrespondenz geführt wird, nimmt schnell für die beiden Frauen ein, deren Harmonie in einem Zeitraum von 17 Jahren nur ein einziges Mal von einem scharfen Missklang durchschnitten wird: 1927 schickt Anna Freud ihr soeben erschienenes Erstlingswerk, eine "Einführung in die Technik der Kinderanalyse", an die Freundin. Salomé zeigt sich nach der Lektüre angetan, und die frischgebackene Autorin offenbart ihr äußerst erleichtert, wie sehr sie besorgt gewesen war, dass Salomé das Buch nicht gefallen könne. Diese merkt hierauf kritisch an, in Anna Freud steckten "leicht solche sonderbaren Sorgen, als müßtest Du sie haben, müßte irgendwo ein Tadel herausspringen, eine Unsicherheit, eine Unzufriedenheit, ein Pessimismus", und verleiht hiermit einem Gefühl Ausdruck, das auch die meisten Lesenden schon beschlichen haben dürfte. Denn von Beginn an wird Anna Freud der älteren Freundin gegenüber von starken Verlustängsten und der Angst vor Liebesentzug geplagt. "Ich bin immer - solange Du es willst - Deine Anna", schließt sie einen Brief im April 1922, und ein halbes Jahr später: "(Solange Du mich aushalten kannst) Deine Anna". Auch macht sie sich gegenüber der bewunderten Briefpartnerin oft klein und lässt nur geringes Selbstwertgefühl erkennen. "Ich bin Dir sehr sehr dankbar dafür, daß Du all den Unsinn, den ich denke, sage und schreibe so gutwillig entgegennimmst und sogar noch beantwortest", schreibt sie gleichfalls im Jahre 1922, und ihre Verlustangst lässt sie unsicher fragen: "Wenn Du einmal fühlst, daß Du auf das alles gar keine Lust mehr hast, würdest Du es dann auch sagen?" Doch fünf Jahre später reagiert Anna Freud auf die Vorhaltungen Salomés, dass sie unsicher sei und stets Tadel erwarte, "schrecklich gekränkt", schweigt nicht weniger als ein halbes Jahr und weist die 'Anschuldigung' schließlich in einem empörten Brief zurück, der allerdings mit den Worten schließt: "Ich möchte so gern, daß Du mich noch leiden kannst" - und bald ist die alte Harmonie wiederhergestellt.

Bis in die späten zwanziger Jahre hinein nimmt die intensiv gepflegte Korrespondenz für Anna Freud offenbar einen immensen Stellenwert ein. Erst allmählich ändert sich das im Zuge ihrer vermehrten Beanspruchung als Therapeutin und Autorin. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre beginnen die Briefe spärlicher zu fließen und zunehmend ist es die langsam älter und immobiler werdende Salomé mit ihrem "beträchtlichen Mehr an Zeit", die "immer gleich antworte[t]" und für die Anna Freud als Draht in die Welt an Bedeutung gewinnt.

Zu dieser Zeit wird die Korrespondenz bereits seit einigen Jahren immer stärker von Sigmund Freuds Krebserkrankung und der Sorge um ihn geprägt. Besonderen Grund nicht nur zur Besorgnis, sondern auch zu Ärger liefert das Verhalten der Ärzte im Anfangsstadium der Krankheit. Sie lassen Freud und die Seinen über Art und Gefährlichkeit der Erkrankung im Unklaren und schrecken selbst vor Unwahrheiten nicht zurück. "Irgendwie macht dieses wehrlose den Ärzten gegenüber fuchswild, beinahe gehässig gesinnt!", ereiferte sich Salomé Ende 1923 zu Recht. Anders als Freuds Tumor wird ihre eigene Krankheit - sie leidet in den 30er Jahren an Diabetes, die schließlich zu Erblindung und Tod führt - kaum ein Thema des Briefwechsels sein. Salomé schweigt darüber und Anna Freud fragt kaum mehr als zaghaft nach ihrem Befinden.

Zwar sind es Alltagsthemen, die den Briefwechsel über weite Strecken prägen. So berichtet Anna Freud etwa von ihrem schließlich siegreich verlaufenden Ringen mit "Scherbesen und Aufwischlappen", und Andreas-Salomé erzählt von "ersten Johannisbeeren am Reifen" und Himbeeren, die "kaum erst angesetzt" haben. Doch ist natürlich auch immer wieder von der "mißtrauische[n] Psychoanalyse" die Rede. Insbesondere Salomé lässt wiederholt beiläufige Beurteilungen anderer PsychoanalytikerInnen und ihrer Theorien einfließen, wie etwa über "Jungs oder Adlers philosophische[n] Rappeldwatsch", den sie allerdings immer noch besser findet als den "Dollarstern, der über Rank aufging", ein andermal hebt sie hervor, dass Otto Fenichel "sehr klug aber überklug" sei, äußert sich über den "überdialektisch[en]" Rank oder teilt Anna Freud mit, dass sie Wilhelm Reich "gerne kennen gelernt" hätte. Auch wird der "sachlich vortrefflich[en]" Helene Deutsch Lob gezollt. Weniger angetan ist sie hingegen von der "elende[n] Melanie Klein" mit ihrer "Vergewaltigung der winzigsten Menschlein". Anna Freud hält sich ihrerseits mit solchen Urteilen weitgehend zurück. Selbst als Salomé einmal direkt fragt, ob man Groddecks "Buch vom Es" kennen müsse, äußert sie nicht ihre eigene Meinung, sondern reicht die Frage lieber an "Papa" weiter. Und noch in späten Jahren, als sie schon längst eine renommierte Psychoanalytikerin ist, teilt sie Salomé nur lapidar mit, man habe Reich aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausschließen müssen, da es "nicht mehr mit ihm gegangen" sei, ohne dass sie ein inhaltliches Wort über die Kontroverse verliert.

Bei sämtlichen Meinungsverschiedenheiten der sich herauskristallisierenden psychoanalytischen Schulen stehen jedoch beide Frauen ausnahmslos und ohne Abstriche auf Seiten Sigmund Freuds - nicht nur die Tochter, sondern auch Lou Andreas-Salomé mit ihrem ganz eigenen psychoanalytischen Kopf. Gelegentlich beschränkt sich Salomé dann darauf, die konkurrierenden Auffassungen Dritter psychologisierend zu erklären, statt sie theoretisch zu widerlegen. Dies widerfährt etwa Poul Bjerre, von dem Salomé zunächst konstatiert, dass er "ja nicht mehr zu uns gehört sondern Jung", "schlimmer" sei allerdings, dass er die Analerotik aufgrund "seiner eigenen, nie von 1 Andern analysierten Zwangsneurose" nicht gelten lassen könne.

Von besonderem Interesse sind Salomés ausführliche Darlegungen zum Verhältnis von Unbewusstem und Literatur, zu dem sie von Anna Freud wiederholt befragt wird. Bererits in den ersten Briefen liefert Salomé fast schon kleine Abhandlungen zum Verhältnis des kindlichen Verständnisses der Beziehung zwischen Traum und Realität einerseits und künstlerischer Kreativität andererseits. So führt sie in einem der Briefe aus dem Jahre 1922 aus, dass sie "hinsichtlich der Nichtunterscheidung des Kindes zwischen Traum und Wirklichkeit" oft denke, man unterstreiche "zu ausschließlich das Negative dran", womit der "Wachträumer" leider "gegenüber der Wirklichkeit" Unrecht bekomme. Doch habe seine Verwechslung "ja auch Recht, in einem Stück[,] das erst spät und selten, (eben im Dichterischen, Künstlerischen, Geformten) ihm dann auch als recht und gut zugestanden" werde. "Aber dies Stück", so betont sie, stecke "schon von vornherein drin, als gerade das kleinste Kind nicht bloß dummerhaft nochnichtunterscheidet, sondern tatsächlich darin noch eine Einheit von Geträumtem und Wirklichkeit" erlebe. Das Kind sei "noch mit 1 Fuß" in einer "Totalwirklichkeit", die "unser Bewußtsein" erst hinterher "zu Subjekt und Objekt" entzweie. "Alle Wanderungen aller Poeten", so die Psychoanalytikerin und Schriftstellerin, "werden ja noch auf diesem 'Fuß' gemacht". Auch in den folgenden Briefen wendet sie sich wiederholt den "Unterscheidungen von Tagträumen und Dichterischem" zu. Die Differenz zwischen der "Benommenheit" des Tagtraums und der "Benommenheit gestaltender Arbeit", schreibt sie einmal mit Emphase, sei "tief, tief, tief!".

Auch in den Jahren 1923 und 1924 kommt Salomé immer wieder auf die Parallelen und Unterschiede zwischen Traumarbeit und künstlerischer Arbeit zurück. Anna Freud sagt zu all dem wenig. Nun könnte man das mit mangelndem Interesse erklären, das daher rühren könnte, dass sie nicht schriftstellerisch tätig war. Doch greift dieser Erklärungsversuch nicht, denn auch sie versucht sich zur Zeit der Korrespondenz an der Literatur, ohne dass ihre Werke allerdings über einen fragmentarischen Charakter hinausgelangt wären oder gar Publikationsreife erreicht hätten. Anders als von ihrem Vater wird sie jedoch von Salomé zu ihren literarischen Versuchen ermutigt. Während diese ihre Publikationen an Anna Freud schickt, bekommt sie ihrerseits einen offenbar nur mühsam zustande gekommenen kurzen Prosaabschnitt über eine Figur mit dem sprechenden Namen Heinrich Mühsam zugesandt. Auch hier wieder das bekannte Missverhältnis: Während Salomé das Fragment ausführlich kommentiert und bewertet, schreibt Anna Freud nur ein ums andere Mal, wie gut ihr die Bücher der Freundin gefallen. Allenfalls, dass sie ihrem Erstaunen über Salomés 1894 erschienenes Nietzsche-Buch (vgl. die Rezension des Buches in literaturkritik.de 9/2000) Ausdruck verleiht, in dem sie die Psychoanalyse vorweggenommen findet: "Ist es nicht lange vor Deiner analytischen Zeit geschrieben?" fragt sie und wundert sich: "vieles darin klingt so ganz analytisch. Hat man damals überhaupt schon so darüber gedacht oder war das alles nur Deine ganz eigene Anschauung?" Psychoanalyse, antwortet Andreas-Salomé, sei ihr zur Zeit der Abfassung des Buches "ein fremdes Land" gewesen - "leider, andernfalls sollte es ganz ungeheuer viel wertvoller geworden sein".

Die beiden Bände des vorliegenden Briefwechsels hätten hingegen nicht viel besser gemacht werden können. Die Herausgeberinnen haben die Korrespondenz hervorragend ediert, mit einem gründlichen Kommentar versehen und ein fundiertes Nachwort geschrieben. Ihrem Dank an den Verlag dafür, dass er es ermöglichte, den Briefwechsel ungekürzt zu veröffentlichen, schließt sich der Rezensent gerne an.

Titelbild

Lou Andreas-Salomé / Anna Freud: "... als käm ich heim zu Vater und Schwester". Briefwechsel 1919-1937. Zwei Bände.
Herausgegeben von Daria A. Rothe und Inge Weber.
Wallstein Verlag, Göttingen 2001.
908 Seiten, 85,90 EUR.
ISBN-10: 3892442134

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