Eine Grenzgängerin

Kim Chernin findet ihren Weg

Von Tanja ZobeleyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tanja Zobeley

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1971 verläßt die dreißigjährige amerikanische Jüdin Kim Chernin ihren Mann und ihre achtjährige Tochter, um in Israel nach ihren Wurzeln und nach der großen Liebe zu suchen. Sie wird Mitglied in einem Kibbuz nahe der arabischen Grenze. Darüber und über die dramatischen Ereignisse, die durch ihre Ankunft im Kibbuz ausgelöst werden, hat Kim Chernin jetzt ein Buch geschrieben: "'Über die Grenze' ist eine spannende Autobiographie, ein faszinierendes Dokument der jüdischen Identitätsfindung, eine Auseinandersetzung mit Weiblichkeit, Sexualität und Homosexualität, nicht zuletzt eine kenntnisreiche, kritische Stellungnahme zur Geschichte Israels und der Kibbuzbewegung." So jedenfalls der Verlag.

Die Autorin selbst nennt ihr Buch weder Autobiographie noch Roman, sondern "Eine Entdeckungsreise" ("An Erotic Journey"), und sie ist sich dessen bewußt, daß ihre Geschichte an manchen Stellen allzu konstruiert wirkt. Fragen wie "Wer besäße die Kühnheit, zu sagen, was Wahrheit ist?" und "Wird das Gedächtnis zum Lügner?" belegen das.

Kim Chernin reist nach Israel, um im Kibbuz ihrer Freundin Devora zu leben. Aus wirtschaftlichen Gründen ist es schwer, in Araht aufgenommen zu werden. Eine Vollversammlung aller Kibbuzmitglieder hat darüber zu befinden, ob Kim bleiben darf. Um die Entscheidungsträger milde zu stimmen, backen Kim und Devora einen Honigkuchen; und hier geschieht eines der unglaublichen, fast magischen Ereignisse, die Kim ständig auszulösen scheint: Beim Anrühren beginnt der Kuchenteig, allen physikalischen Gesetzen zum Trotz, endlos zu wachsen und zu wachsen, bis alle in der Küche verfügbaren Behälter gefüllt sind. Als wollte Kim Chernin ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, Dinge, Tiere und Menschen verzaubern zu können. Ein Mann, dessen Funktion in nichts anderem besteht als einen Schnurrbart zu tragen und sie anzusehen, "schenkte Kim Chernin einen hungrigen Blick. Vielleicht konnte sie ihn ja noch retten." Nach der kontroversen Sitzung der Kibbuzim wird sie in Araht aufgenommen. Vier Monate lebt sie dort. In dieser Zeit verliebt sie sich in den zehn Jahre jüngeren Soldaten Dov Aviad sowie in Sena, die Frau des Kibbuzsekretärs Boaz.

Die Darstellung hält sich nicht an die Chronologie, sondern präsentiert Fragmente beider Liebesgeschichten, deren Verknüpfungen dem Leser nach und nach erst deutlich werden. Das letzte Drittel des Buchs dokumentiert Briefe, die an Sena gerichtet sind. Kim hat Israel verlassen und lebt einige Zeit bei einer befreundeten Familie in Schottland, bevor sie nach Amerika zurückkehrt. Mit ihrer Tochter Larissa spricht sie über ihre Erfahrungen; von ihrem Mann hat sie sich, einige Jahre nach ihrer Rückkehr, erneut getrennt; mit Devora nimmt sie erst nach zwanzig Jahren wieder Kontakt auf; Dov Aviad besucht sie 1991; zu Sena sind alle Verbindungen abgerissen. Dies alles erzählt Kim Chernin klar und überzeugend am Ende ihrer Geschichte. Ein bißchen schade ist, daß diese deutlich strukturierte, kursorisch klare Erzählform des Schlusses nicht früher zum Zuge kommt. Über das ganze Buch hinweg praktiziert die Autorin eine strikte Trennung vom "Ich" und seinem "Alter ego". Die Bewunderung der Autorin für "Kim Chernin" läßt sich jedoch aus jedem Wort herauslesen. In einer Nachbemerkung heißt es über das Buch: "Wahrscheinlich habe ich es geschrieben, um mich selbst besser zu verstehen, und mit Sicherheit mußte ich, als das Buch dann beendet war, wieder einmal feststellen, wie kompliziert ein solches Unterfangen ist." So bleibt denn auch die angekündigte "kenntnisreiche, kritische Stellungnahme zur Geschichte Israels und der Kibbuzbewegung" in den Ansätzen stecken.

Titelbild

Kim Chernin: Über die Grenze. Aus dem Amerikanischen von Christel Dormagen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
318 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3518409697

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